Das vatikanische Dokument betont, man halte weiterhin an der Sexualmoral der Kirche fest und wolle nur den Segensbegriff erweitern. In einer weiteren Erklärung sprach der Präfekt des «Dikasteriums für die Glaubenslehre», Kardinal Víctor Manuel Fernández, von kurzen Spontansegnungen, die nicht länger als 10 bis 15 Sekunden andauern sollen.
«Fiducia supplicans» hat sich bisher nicht als erhoffter Mittelweg entpuppt, bei dem alle kirchenpolitischen Lager zufriedengestellt werden. Vielmehr sehen glaubenstreue Katholikinnen und Katholiken die Gefahr einer zunehmenden Aushöhlung der Sexualmoral, währenddem Kritiker des Lehramts diesen Zweite-Klasse-Segen für Paare, die nicht in einer katholischen Ehe leben, als diskriminierend bezeichnen und sich eine gänzliche Umkrempelung der katholischen Sexualmoral erhoffen.
Beim Gedanken an diesen kurzen Segen, der als eine Erweiterung der Segenspraxis eingeführt werden soll, wurde ich an eine Szene aus einem meiner Lieblingsfilme erinnert. In «Rocky 2» fährt Rocky Balboa kurz vor dem Kampf um den Weltmeistertitel zu einem Priester. Draussen auf der Strasse stehend ruft er den Priester, der zugleich ans Fenster seiner Wohnung tritt und ihn auf Italienisch fragt, was Rocky wolle. Der von Sylvester Stallone verkörperte Boxer bittet um einen Segen für seine Gesundheit, den der Priester ihm unverzüglich erteilt. Die ganze ethische Diskussion rund um die Frage, ob es aus christlicher Sicht richtig ist, überhaupt in den Ring zu steigen und für Geld jemanden niederzuschlagen, blieb aussen vor. Niemand hätte wohl Sympathien für einen Geistlichen empfunden, der Rocky aus solchen ethischen Überlegungen heraus den Segen verweigert hätte. Das menschliche Leben ist komplex und nicht alle moralischen Entscheidungen folgen einer mathematischen Logik. Das ist der Grund, weshalb viele Traktate, die sich in jüngster Zeit aufgrund der im Text enthaltenen Widersprüche kritisch mit «Fiducia supplicans» auseinandergesetzt haben, eine geringe Breitenwirkung entfalteten.
Sträfliche Vernachlässigung heterosexueller Menschen in neuer Beziehung
Im Folgenden möchte ich über zwei Beobachtungen schreiben, die ich im Zusammenhang mit dem Diskurs rund um «Fiducia supplicans» bemerkenswert finde und die meines Erachtens in der hitzigen und polarisierenden Atmosphäre rund um dieses Schreiben zu wenig berücksichtigt werden.
Der erste Punkt betrifft die Zielgruppe, die von «Fiducia supplicans» betroffen ist. In den Medien wurde vor allem über die Segnung homosexueller Paare geschrieben. Auch die Schweizer Bischofskonferenz hat in ihrem Statement explizit gleichgeschlechtliche Paare erwähnt. Wenn wir den pastoralen Ansatz von Papst Franziskus ernst nehmen, dann muss gefragt werden, wo das Gros der Menschen liegt, die sich aus Sicht der Kirche in irregulären Situationen befinden. Der absolut überwiegende Teil besteht nicht aus gleichgeschlechtlichen Paaren, sondern aus heterosexuellen Menschen, die im Konkubinat leben oder in einer neuen Beziehung sind, nachdem die kirchlich geschlossene Ehe in die Brüche gegangen war.
Es scheint, als würden für unsere Schweizer Bischöfe all die jungen Paare, die nicht abstinent leben wollen, jedoch momentan keine kirchliche Heirat in Betracht ziehen, keine Rolle spielen. Ebenso unbedeutend scheinen die Menschen zu sein, die kirchlich geheiratet haben und nun in einer neuen Beziehung leben. Dass die letztere Gruppe, die um einiges grösser ist als diejenige der homosexuellen Paare, nun so vernachlässigt wird, ist besonders unverständlich. Nach «Amoris laetitia» haben viele Priester und Bischöfe den Entscheid des Papstes begrüsst, wiederverheiratete Geschiedene nicht völlig von den Sakramenten auszuschliessen, sondern die Einzelfälle genauer zu betrachten. Eigentlich hätte dies der Startschuss werden sollen für eine Pastoral, die sich jener Menschen annimmt, die an ihrer gescheiterten Ehe leiden. Der Konsens (auch derjenige mit den orthodoxen Mitchristen), dass eine nach einer gescheiterten Ehe eingegangene neue Beziehung, sofern diese Beständigkeit und Treue aufweist, positive Elemente beinhaltet, ist ungleich grösser als dies bei gleichgeschlechtlichen Beziehungen der Fall ist. Die Tatsache, dass seit «Amoris laetitia» keinerlei Bemühungen stattfanden, Menschen, die sich aufgrund einer zerbrochenen Ehe von der Kirche entfernt haben, beizustehen und ihnen das mütterliche Gesicht der Kirche zu zeigen, und nun diese Gruppe ganz vergessen wird, zeugt vom desolaten Zustand der Schweizer Kirche. Es stellt daher eine Selbstlüge dar, wenn die Schweizer Bischofskonferenz um ihren Präsidenten Felix Gmür das Ideal einer offenen Kirche beschwört, währenddem die bisherigen Möglichkeiten, die der Heilige Vater den Bischöfen in die Hand gab, seit Jahren brach liegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses neue vatikanische Dokument nun die Bistümer bewegt, den von Papst Franziskus gewünschten Gang an die Ränder der Gesellschaft zu wagen, ist verschwindend klein.
Die Realität sieht so aus, dass trotz der – vor allem in den Bistümern Basel und St. Gallen – sehr progressiven theologischen Ausrichtung die Zusammensetzung der Gläubigen in den Pfarreien vor allem aus gutbürgerlichen, älteren Schweizer Bürgern besteht. Die jungen Menschen, die dem Bild einer offenen und lebendigen Kirche entsprechen würden, gehen in die fremdsprachigen Missionen oder in andere katholische Gemeinschaften, die um einiges konservativer ausgerichtet sind als die Ortspfarreien. Das Verhalten vieler Schweizer Bischöfe scheitert daher nicht in erster Linie an ihrem Widerspruch zum Lehramt, sondern an der Empirie.
Die zweite Beobachtung knüpft an die erste an: Was treibt einige Bischöfe, Priester, Theologen und Laien an, so vehement für eine Änderung der kirchlichen Lehre einzutreten, wenn doch die bisherigen Erfahrungen wenig Hoffnung machen, dass dadurch eine andere, bessere Kirche entstünde? Was treibt Menschen an, von der Kirche eine Legitimierung ihrer Lebensverhältnisse zu fordern, wenn die gleichen Menschen ansonsten selten oder gar nie am kirchlichen Leben partizipieren? Meiner Meinung nach ist es die grosse Sehnsucht nach einer Rechtfertigung des Amtes, der gesellschaftlichen Position und der eigenen Lebensführung, welche das Handeln der Pressure-Groups und der meisten dem Zeitgeist hofierenden Schweizer Bischöfe erklärbar macht.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Gott hat z.B. auch mir die Freude an den "Rosen in Nachbars Garten" geschenkt, aber nich die Erlaubnis, diese zu pflücken.
Gratulation und Dank zu diesem treffenden Artikel.
„Gott, Du mein Gott, Dich suche ich; meine Seele dürstet nach Dir.“ (Ps 63,2)
Weshalb getraut sich den niemand den original Wortlaut des Katechismus beizuziehen?
Junge oder ältere Menschen die im Konkubinat leben und wohl auch Sex haben, werden dort wie folgt beschrieben:
"2353 Unzucht ist die körperliche Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verheiratet sind."
Wenn zwei Geschiedene eine neue Liebe gefunden haben, werden sie gemäss den Regeln des Katechismus als permanente Ehebrecher gebrandmarkt.
"2384 Der Ehepartner, der sich wieder verheiratet hat, befindet sich dann in einem dauernden, öffentlichen Ehebruch."
Das sind nur zwei Beispiele, die zeigen wie weit die Sexuallehre der kath. Kirche neben dem heutigen Leben steht. So weit daneben, dass sich auch konservative Textverfasser nicht mehr getrauen die Dinge beim Namen zu nennen. Aber auch soweit, dass die Regeln den normalen, jungen Katholikinnen und Katholiken egal sind.
Wollen Sie sagen, dass Sex eben heute ein allgemein gültiges Menschenrecht und deshalb die entsprechende Morallehre der Kirche dringend abzuschaffen sei? Oder sind Sie der Ansicht, dass diese Artikel des KKK klar und unmissverständlich die gültige Lehre der Kirche, d.h. den Willen Gottes, wiedergeben, und deshalb zu verkünden wären, ob man sie hören will oder nicht? (vgl 2.Tim 4,2)
Ich glaube auch nicht, dass im Katechismus der Wille Gottes widergegeben wird, sondern der Wille von Kirchenfürsten aus dem Mittelalter.
Und andererseits, wie könnte unsere Kirche weiterhin in ihren offiziellen Verlautbarungen an einer Lehre festhalten, wenn sie nicht glauben, nicht davon überzeugt wäre? Wäre das nicht ein krasser Betrug an der Gläubigen?