Anny Myriam Favre ist ausgebildete Lehrerin, wählte aber aus Berufung die Welt der «kleinen Leute». (Bild: Lukas Brügger/ajour.ch)

Kirche Schweiz

Ein Leben im Dienst der Nächstenliebe

Eine unauf­fäl­lige Ordens­ge­mein­schaft mit­ten in Biel nennt sich «Kleine Schwes­tern Jesu». Ihr gehört Anny Myriam Favre an. Die aus­ge­bil­dete Leh­re­rin wählte aus Beru­fung die Welt der «klei­nen Leute».

Am Eingang des dreizehnstöckigen Bieler Hochhauses suchen wir vergeblich nach ihrem Namen auf den Klingelschildern. Stattdessen finden wir die Aufschrift «Kleine Schwestern Jesu». Hier leben Anny Myriam Favre und drei weitere Frauen der katholischen Ordensgemeinschaft unter einem Dach. Unscheinbar inmitten der städtischen Hektik: kein Kloster, nur eine banale Mietwohnung mit schlichter Einrichtung. Für das tägliche Gebet dient ein Zimmer als Andachtsraum.

Anny Myriam Favre trägt schon lange keine Ordenstracht mehr, sondern Alltagskleidung mit einem einfachen Holzkreuz um den Hals. Bei der Arbeit als Verkäuferin in einem Warenhaus wird das christliche Symbol nicht offen getragen. Seit Kurzem ist Favre im Ruhestand. Bis dahin ahnten die meisten Kundinnen der Textilabteilung nicht, dass sie bei der Auswahl ihrer Unterwäsche von einer Nonne beraten wurden. «Sogar der Geschäftsführer hatte wohl erst bei meiner Verabschiedung davon erfahren», sagt die gebürtige Walliserin lachend. Sie lebt seit 1997 in Biel.

Sie wollen nicht bekannt sein
Es sei gut, kenne man sie nicht, denn bei den Kleinen Schwestern Jesu steht die Verbreitung des Glaubens im Hintergrund. Missionseifer ist ihnen fremd. «Unsere Ordensgemeinschaft steht den Nächsten freundschaftlich zur Seite und schliesst sie ins Gebet ein», präzisiert Schwester Anny Myriam. Deshalb wählte sie bewusst eine berufliche Tätigkeit mit niedrigen Löhnen und häufig prekären Arbeitsbedingungen. Die ausgebildete Lehrerin entschied sich für eine Stelle im Verkauf. Dort pflegte sie achtsame Beziehungen zu Kunden und Kollegen. Mit Nachdruck setzte sie sich für deren Rechte ein. Dafür bestritt sie monatelange Kämpfe und nahm unterschwellige Drohungen in Kauf. Am Ende erreichte sie Verbesserungen zugunsten der Arbeitnehmenden, die sogar auf Schweizer Ebene Früchte zeigten. «Wie unser Vorbild Charles de Foucauld sagt, haben wir nicht das Recht, gleichgültige Beobachter zu sein», erklärt die gewerkschaftlich organisierte Ex-Verkäuferin. Mit 64 Jahren ist Anny Myriam die Jüngste in der Bieler Ordensgemeinschaft. Vor dem Hintergrund der Überalterung der Bevölkerung hat sich ihre Solidarität nun auf Migranten verlagert und auf ältere Menschen – solche, die unter Einsamkeit oder Sucht leiden.

Eine der Ordensschwestern hat lange Jahre in Palästina gelebt und spricht gut Arabisch. Die andere hat fast ihr ganzes Leben in Afghanistan verbracht. Beide pflegen Verbindungen zu den jeweiligen Volksgruppen. Die Kontakte entstehen manchmal spontan, durch einen Anruf oder während eines Spaziergangs im Quartier. Der Bieler Ableger der Kleinen Schwestern Jesu wurde 1953 als erster in der Schweiz gegründet. Die zweisprachige Gemeinschaft besteht aus drei bis vier Frauen unterschiedlichen Alters und Herkunft. Alle leben bewusst unter denselben Bedingungen wie gewöhnliche Mitbürgerinnen.

Die Kleinen Schwestern Jesu sind über die ganze Welt verstreut: Kuba, Uruguay, Ruanda, Marokko, Frankreich und andere Länder mehr. «Wir sind nicht nur da, um zu geben, sondern auch, um zu empfangen.» Das sei im Aufbau der Freundschaftsbeziehungen begründet. Die Entdeckung der Menschen setze stets Nähe und Teilhabe an ihrem Alltag voraus, sagt Anny Myriam. Aus diesem Grund haben die Schwestern des von Charles de Foucauld geprägten Ordens in Fabriken, Geschäften, Kiosken oder im ehemaligen Restaurant Le Cardinal gearbeitet. Beziehungen entstünden durch gemeinsames Bewältigen der einfachen Aufgaben des täglichen Lebens. Jede Ordensfrau sei offen für einen «inneren Ruf». Einige habe dieser dazu bewegt, in der Welt der Drogenabhängigen zu helfen. Ob das Ansinnen wirklichkeitsnah und erfolgreich ist, ergebe sich aus der Erfahrung: «Manchmal ist es machbar, manchmal nicht», so die Wahlbielerin.

Schon in jungen Jahren verspürte Anny Myriam den tiefen Wunsch, ihr Leben Gott zu widmen. Dabei träumte sie von einem besinnlichen Dasein im stillen Gebet. Aber es kam anders: «Als ich zum ersten Mal den Kleinen Schwestern Jesu begegnete, verkauften diese an einem belebten Jahrmarktstand Crêpes.» Die Frau legte ihre utopischen Vorstellungen ab, hörte auf die innere Stimme und trat dem Orden bei. Zunächst reiste sie mit einer Gruppe von Schwestern im Wohnwagen von Markt zu Markt. Dann begleitete sie Frauen im Gefängnis. Zuvor verbrachte sie freiwillig zwei mehrmonatige Aufenthalte hinter Gittern.

Das Leben der Armen teilen
Was motiviert Anny Myriam zu dieser Selbstlosigkeit? Dazu erklärt die Ordensfrau: «Charles de Foucauld sagte, man müsse mit den Kleinen und Armen leben und ihre Lebensbedingungen teilen, um Bruder oder Schwester dieser Menschen zu werden.» Dafür besuchte sie die Gassenküche, arbeitete als Putzfrau bei einem an Aids erkrankten Mann und war lange Jahre im Verkauf tätig. «Viele Gesichter wohnen in meinem Gebet», so Anny Myriam.

Zum Verständnis der Kleinen Schwestern und Brüder Jesu lohnt sich ein Blick auf die Gestalt von Charles de Foucauld. Der im letzten Jahr Heiliggesprochene hat den Orden zwar nicht gegründet, aber er ist dessen Inspirator. De Foucauld war ein junger Mann aus gutem Hause, reich, undiszipliniert, Atheist, später Konvertit und schliesslich Einsiedler in der Sahara. Auf den ersten Blick haben Schwester Anny Myriam und die Gründerfigur ihres Ordens wenig gemeinsam. Heute sei er für sie «ein Bruder», aber dem war nicht immer so: Zunächst war er ihr fremd, denn er führte ein Leben, das zu weit vom ihrigen entfernt war. Seine religiösen Schriften empfand sie als «völlig ungeniessbar», erzählt Anny Myriam. Mit der Zeit entdeckte sie in De Foucaulds Weg das spirituelle und menschliche Abenteuer eines Mannes, der stets auf der Suche nach Sinn und Wahrheit war. Mehr als hundert Jahre nach seiner Ermordung bleibt der nunmehr Heilige lebendig, insbesondere durch die Präsenz der Kleinen Schwestern und Kleinen Brüder Jesu, die von seiner Botschaft getragen werden.

Nicole Hager/ajour.ch

Originalbeitrag im Bieler Tagblatt (nur mit Abo)


Bieler Tagblatt


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