Blick auf Jerusalem. (Bild: rquevenco/Pixabay)

Interview

Ein rie­si­ges Gefäng­nis unter freiem Himmel

Bischof Peter Bürcher hält sich aktu­ell im Hei­li­gen Land auf und erlebt die dor­tige Situa­tion haut­nah. Im Inter­view mit «swiss​-cath​.ch» berich­tet er von per­sön­li­chen Erfah­run­gen und gibt einen Ein­blick in das Leben im Hei­li­gen Land, das sich seit dem 7. Okto­ber grund­le­gend ver­än­dert hat.

Bischof Bürcher, Sie sind regelmässig im Heiligen Land. Der brutale Angriff der Hamas und der daraus folgende Krieg prägt das Leben in Israel und Palästina. Was hat Sie besonders betroffen gemacht?
Während des Winters bin ich wie jetzt gewöhnlich im Heiligen Land und im Sommer in der Schweiz. So läuft es seit meiner vollen Emeritierung. Ja, der 7. Oktober war ein brutaler Tag und die darauffolgenden Tage sind es nicht weniger, leider noch bis heute, am 85. Tag des jetzigen Krieges. Die Zahl der jetzt mehr als 20 000 Toten in Gaza, darunter sehr viele Kinder und Frauen, sowie auch sehr vieler Opfer auf israelischer Seite erschreckt mich. Dieser Krieg führt jetzt schon zu einer riesigen Katastrophe für alle Kriegführenden. Wann wird er enden? Und wie?

Wie erleben Sie die Bevölkerung angesichts der tagtäglichen Bedrohung?
Tagtäglich fliegen viele Flugzeuge über Jerusalem und das ganze Land. Von Bethlehem aus, das nur 70 Kilometer von Gaza entfernt ist, hört man den regelmässigen Beschuss durch Raketen und Panzer. Die über 35 000 Einwohnerinnen und Einwohner von Bethlehem befinden sich nun noch mehr als zuvor in einem riesigen Gefängnis unter freiem Himmel. Die Einwohner, die von Israel die Erlaubnis erhalten hatten, zur Arbeit nach Jerusalem zu kommen, sitzen jetzt in Bethlehem fest. Sie haben ihre Arbeit verloren. Viele versuchen auszuwandern und zu Familienmitgliedern zu gelangen, die die «Erlaubnis» erhalten haben, ihr Land zu verlassen. Eine grosse Versuchung für die einheimischen Christen!

Haben die christlichen Kirchen unter den herrschenden Umständen konkrete Möglichkeiten, den Gläubigen zu helfen?
In Gaza leben nun weniger als 1000 Christen verschiedener Konfessionen. Die Katholische Kirche ist jetzt dort mit einem Priester, drei Schwesterngemeinschaften und Krankenhäusern sehr aktiv. Ich bewundere sie alle. Papst Franziskus telefoniert fast jeden Tag mit ihnen. Zu Weihnachten hat er sogar seinen Almosenmeister, Kardinal Konrad Krajewski, ins Heilige Land gesandt. Er wollte auf diese Weise all jenen nahe sein, die sich in der Nacht des Krieges und seiner Gräueltaten befinden.

Derzeit gibt es drei katholische Schulen in Gaza: «Holy Family School», «Rosary Sisters School» und die Pfarreischule. Alle drei sind nicht in Betrieb. Die ersten beiden wurden von der Armee angegriffen und die Gebäude sind aufgrund der Schäden nicht mehr nutzbar. Die dritte Schule dient nun als Zufluchtsort für christliche Familien.

Konkrete Hilfe kam sogar auch von Nichtchristen: Der König von Jordanien liess an Weihnachten als Weihnachtsgeschenk eine Hilfslieferung für die Bewohner von Nord-Gaza durch die jordanische Luftwaffe abwerfen. Er betonte die Verpflichtung seines Landes, «denjenigen Hilfe zu leisten, die in der Kirche Zuflucht suchen». Ein sehr willkommenes interreligiöses Zeugnis!

Ich persönlich wohne jetzt in Jerusalem, wo es anders aussieht. Alle christlichen Kirchen sind hier vertreten und tun ihr Bestes unter den herrschenden Umständen. Weihnachten war eine Nacht im aktuellen Krieg und wurde dieses Jahr würdig, aber schlicht gefeiert. Dieses Weihnachtsfest war hier so echt wie nie zuvor! Ohne Dekorationen, ohne viele Geschenke – so begegnet man dem Retter Jesus, der uns geboren wurde, besser. Die Weihnachtsmesse war in unserem jetzt dunklen Heiligen Land eine Oase des Friedens und des Lichts.

Bereits vor dem 7. Oktober wurden Christen in Israel immer wieder Opfer verbaler Übergriffe und auch gewaltsamer Übergriffe auf Gebäude. Hat sich das Verhältnis zwischen Juden und Christen weiter verschlechtert oder hat der Angriff der Hamas dazu beigetragen, dass sich Juden und Christen näherkommen?
Ich gebe hier nur ein konkretes Beispiel: Im Norden Israels finden derzeit ebenfalls zahlreiche Kämpfe statt. Die Regierung hat Tausende von Menschen evakuiert, unter anderem nach Galiläa. Viele wurden in leeren Hotels am See Genezareth untergebracht. Eine dieser christlichen Herbergen bietet nun schon seit mehreren Wochen mehr als 200 jüdischen Personen, darunter vielen Kindern, Zuflucht. Alle leben dort in guter Harmonie mit den Christen. Das ist interreligiöser Dialog in Wahrheit! Da kommen sich Juden und Christen im Alltag näher.

Alle Beteiligten möchten Frieden, doch schon über die Bedingungen für einen Waffenstillstand herrscht Uneinigkeit. Können die christlichen Kirchen hier vermitteln oder geschieht dies alles nur auf politischer Ebene?
Vor einigen Tagen fragte der Kustos der Franziskaner im Heiligen Land: «Was können religiöse Führer tun? Meiner Ansicht nach können und müssen die Religionsführer das tun, was Papst Franziskus und der Grossimam von al-Azhar, Ahmad al-Tayyib, 2019 mit der Unterzeichnung der Erklärung von Abu-Dhabi getan haben. Das heisst, die religiösen Führer müssen, ich würde sagen, einen Multilateralismus initiieren, in dem sie ihren Gläubigen helfen, eine Interpretation und in einigen Fällen eine Neuinterpretation der heiligen Texte vorzunehmen und diese Neuinterpretation auf eine Kultur der Geschwisterlichkeit und des Friedens auszurichten. Dies ist aus meiner Sicht absolut grundlegend».

Wie die christlichen Autoritäten des Heiligen Landes es vor ein paar Tagen erklärten: Trotz der «universellen Position der Kirche, die ein Ende des Blutvergiessens in Gaza fordert», geht der Krieg auch in dieser Weihnachtszeit leider weiter. Wann wird dieser Krieg enden? Es sollte zuerst sobald wie möglich wenigstens ein Waffenstillstand erreicht werden!

Der Überfall der Hamas und der anschliessende Krieg traumatisierten und traumatisieren Menschen sowohl in Israel als auch in Palästina. Wie kann man angesichts dieser Not und Verzweiflung die christliche Botschaft vom Frieden verbreiten?
Mein Wahlspruch als Bischof ist: «Christus, unser Friede». Das Gebet zum Friedensboten Gottes finde ich grundlegend! Uns allen wird dieses Gebet für den Frieden innigst anvertraut. Angesichts der Not und der Verzweiflung sowohl in Israel als auch in Palästina soll meines Erachtens die christliche Botschaft vom Frieden die DNA auch unseres Handelns sein! Dazu gehört aber zuerst Gerechtigkeit auf allen Seiten. «Gerechtigkeit und Friede küssen einander!» (Ps 85,11).  


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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