Der Sündenbock von William Holman Hunt, 1854, Port Sunlight, Merseyside, England.

Hintergrundbericht

Ein Sün­den­bock muss her

Durch alle Zei­ten hin­durch brauch­ten die Men­schen einen Sün­den­bock, wenn etwas Nega­ti­ves ein­trat, das die ganze Gemein­schaft betraf. So wol­len aktu­ell soge­nannte «Fach­leute» den Zöli­bat und die «kle­ri­kale Struk­tur» der Katho­li­schen Kir­che als Haupt­grund für die Miss­brauchs­fälle aus­ge­macht haben. Der Rechen­schafts­be­richt «Auf dem Weg zu einer Kul­tur des ganz­heit­li­chen Schut­zes der Per­son» der «Fokolar-​Bewegung» ver­mit­telt ein ande­res Bild.

Der «Synodale Weg» in Deutschland hat die Schuldigen für die Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche schnell gefunden: den Zölibat und die klerikalen Strukturen. Entsprechend fordern sie in ihren diversen Dokumenten die Abschaffung des Pflichtzölibats und die Änderung der kirchlichen Strukturen. Unterzieht man sich der Mühsal dieser ausufernden Texte, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass es sich hier um eine sogenannte, sich selbst erfüllende Prophezeiung handelt. Auch Schweizer Bischöfe scheinen auf diese Linie einzuschwenken. So meinte Weihbischof Josef Stübi im Interview mit dem «SonntagsBlick» vom 8. April 2023: «Die Kirche kannte jahrhundertelang keinen Pflichtzölibat, der kam erst später. Der Pflichtzölibat könnte abgeschafft werden.» Und Bischof Joseph Maria Bonnemain tut es ihm in der «SonntagsZeitung» vom 9. April 2023 gleich: «Es [Zölibat] ist kein Dogma in der katholischen Kirche.» Und er bringt auch gleich den Papst ins Spiel. «Vor drei Wochen hat der Papst gesagt, er könne sich vorstellen, dass es auch verheiratete Priester in der Kirche gebe.» Immerhin setzt er sich gleichzeitig für den Zölibat ein: «Ich wehre mich dagegen, dass man das Zölibat infrage stellt, weil man es als Unterdrückung der Sexualität sieht.» Mit dieser Aussage dürfte er in Konflikt mit seiner Präventionsbeauftragten Karin Iten geraten. Diese hatte in der Migros Zeitung vom 30. Januar gefordert: «Am Zölibat muss gerüttelt werden! […] Der Zölibat drängt viele Priester zu einem toxischen Doppelleben mit viel Leid auf allen Seiten.» Und auch die «klerikalen Strukturen» müssen zerstört werden, da sie ebenfalls Grund für die Missbrauchsfälle seien: «Es braucht Chancengleichheit – diese patriarchale Sicht auf Gott und die Welt ist für viele Frauen entwürdigend. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit all dem rüttelt an den Grundfesten der katholischen Kirche und an männlicher Definitionsmacht» («Blick» vom 5. April 2023).

Ergebnisse des Rechenschaftsberichts
Doch sind wirklich der Zölibat und die «klerikalen Strukturen» der Grund für die Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche? Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Rechenschaftsbericht der «Fokolar-Bewegung», der am 31. März 2023 veröffentlicht wurde und nun auch auf Deutsch aufgeschaltet ist.

Die «Fokolar-Bewegung» wurde 1943 von Chiara Lubich in Trient (Italien) gegründet. Die Bewegung kennt unterschiedlich Formen der Verbindlichkeit: von Gelübden bis dahin, dass einzelne Grundsätze oder Ziele mitgetragen werden. Unter jenen, die nach den evangelischen Räten leben, sind auch anglikanische, evangelische und orthodoxe Christinnen und Christen.1
Weltweit stehen gemäss eigenen Angaben rund 2 Millionen Menschen in 182 Ländern mit der «Fokolar-Bewegung» in Verbindung: 140 000 Mitglieder; nebst Angehörigen der Katholischen Kirche 50'000 Christen aus über 350 Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften; 30 000 Angehörige der grossen Religionen wie Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus; 70 000 Menschen ohne religiöses Bekenntnis. Also eine bunt zusammengesetzte Gemeinschaft.

Der vorliegende Rechenschaftsbericht kann als Ergebnis eines vorbildlichen Umgangs mit der Missbrauchsthematik gelten, hatte doch die «Fokolar-Bewegung» bereits im Jahre 2000 mit der Bearbeitung von Anschuldigungen und Beschwerden gegen Laien und gottgeweihte Mitglieder begonnen. Unter anderem wurden 2012 eine internationale Expertengruppe zur Entwicklung von Massnahmen zum Schutz von Minderjährigen eingesetzt und 2014 «Leitlinien für das Wohlergehen und den Schutz von Minderjährigen» eingeführt. Der Rechenschaftsbericht stützt sich seinerseits auf eine externe, unabhängige Untersuchung, die von der britischen GCPS Consulting durchgeführt wurde.

Am 31. März 2023 veröffentlichte die «Fokolar-Bewegung» ihren Rechenschaftsbericht. Dieser untersucht Missbrauchsfälle, die seit 2014 gemeldet wurden und sich zwischen 1969 (dem Jahr des ersten der «Fokolar-Bewegung» bekannten Falles) und 2022 ereignet haben.

Betreffend sexualisierter Gewalt an Minderjährigen oder schutzbedürftigen Erwachsenen gingen insgesamt 61 Meldungen ein. Diese betrafen

17 schutzbedürftige Erwachsene;
29 Jugendliche (14 bis 18 Jahre);
13 Kinder unter 14 Jahren;
2 Meldungen wegen Besitzes von Kinderpornografie.

Die 662 Täter (63 Männer und 3 Frauen) sind:
53 Laien (davon 32 mit Gelübden);
5 Priester/Ordensleute;
4 Minderjährige;
4 Personen, die nicht der «Fokolar-Bewegung» angehören.
 

Mit der Erfassung der Meldungen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt sowie geistlichem Machtmissbrauch von Erwachsenen wurde erst 2018 begonnen, deshalb konnten noch nicht alle Täterinnen und Täter ermittelt werden.

Es gingen 22 Meldungen ein, die 31 Täterinnen und Täter betrafen (plus einige noch nicht identifizierte Personen). Davon sind

28 Laien mit Gelübden;
3 Priester/Ordensleute;

12 Männer;
19 Frauen.

Die jeweils ergriffenen Massnahmen können im Rechenschaftsbericht nachgelesen werden.

Pauschale Schuldzuweisungen nicht haltbar
Interessant ist die Tatsache, dass bei sexuellen Übergriffen an Kindern und schutzbedürftigen Erwachsenen 29 Täterinnen und Täter nicht zölibatär lebten; das entspricht immerhin 44 Prozent. Die Zahlen zeigen, dass Missbrauchsfälle nicht nur auf den Zölibat zurückgeführt werden können. Es sei in diesem Zusammenhang auf die (leider) unzähligen Missbrauchsfälle in Familien hingewiesen, denen ein enormes Vertuschungspotenzial eignet und die bis heute nicht annähernd im gleichen Masse thematisiert werden wie jene in der Katholischen Kirche.

In den Fällen von sexuellem und geistlichen Machtmissbrauch von Erwachsenen waren die Täter alle zölibatär lebend – und in der Mehrheit Frauen! Von Missbrauchstäterinnen hört man nicht oft in den Medien und das hat nicht nur mit dem generischen Maskulinum zu tun. Frauen als Täterinnen geht gar nicht, da sonst das Konstrukt «Zölibatäre Priester gleich Missbrauchstäter» Risse bekommt.

Die Statistik belegt zusätzlich: Die Behauptung, dass Missbrauchsfälle in direktem Zusammenhang mit den «klerikalen Strukturen» der Katholischen Kirche stehen, ist nicht haltbar. Die «Fokolar-Bewegung» ist nicht «klerikal» strukturiert: An ihrer Spitze muss zwingend eine Frau stehen – so verlangen es die Statuten. Die Koordination von regionalen Aktivitäten liegt in den Händen eines Regionalrates, dem jeweils eine Frau und ein Mann gemeinsam vorstehen.

Selbstverständlich kann man die «Fokolar-Bewegung» nicht als einzigen Massstab nehmen, doch mit ihren rund 2 Millionen Mitgliedern und «Sympathisantinnen und Sympathisanten» ist sie doch eine Grösse, die etwas aussagt.

Was die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche und ihre Prävention betrifft, liegt noch ein langer Weg vor uns. Doch dieser Weg führt nur dann ans Ziel, wenn vorgefasste Meinungen und Vorurteile beiseitegelegt und der Realität ins Auge geschaut wird: Die verlangte Abschaffung des Zölibats ist keine sinnvolle «Präventionsmassnahme» – übrigens genauso wenig wie die Verteufelung der katholischen Sexualmoral.
Gleichzeitig können wir nur hoffen, dass unsere Bischöfe nicht vollends auf die Linie des «Synodalen Weges» in Deutschland abdriften und Präventionsmassnahmen als Selbstdemontage inszenieren.

 


1 https://de.wikipedia.org/wiki/Fokolarbewegung, abgerufen am 11. April 2023.
2 Einige Meldungen betreffen mehr als eine Täterin resp. Täter.


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

E-Mail

Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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  • user
    Ferdi23 12.04.2023 um 22:18
    Bemerkenswerter Artikel.
  • user
    Hansjörg 12.04.2023 um 18:41
    Zum obigen Text ist noch zu anzufügen, dass es bereits heute Priester mit Ehefrau und Kindern gibt. Nämlich anglikanische Priester, die zur kath. Kirche übergetreten sind, und dabei ihre Familie mitgenommen haben.
    Aus den aufgeführten Zahlen ist zu erkennen, dass wir bei 50% Frauen in den "geweihten Berufen" rund 40% weniger Missbrauchsfälle bei Kindern und Schutzbedürftigen zu beklagen hätten. Ganz einfach, weil Frauen weniger Missbrauchstaten in diesem Bereich ausüben.
    • user
      Ferdi23 12.04.2023 um 22:15
      In der von Ihnen genannten Abteilung sind 61 Meldungen (nicht: qualifizierte Fälle!) aus einem Zeitraum von 53 Jahren mit 5 von 66 verdächtigen Täterpersonen wovon 5 geweihte vermerkt. Über die Struktur und die räumliche Verteilung der mutmasslichen Opfer über die ganze Welt lese ich nichts. Beim geistlichen Machtmissbrauch finden sich 3 geweihte von 31 beschuldigten in 22 Meldungen und keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang mit einer Bildungseinrichtung. Irgendwelche Mutmassungen über das Risiko unter die Räuber im genannten Umfeld zu verfallen sind abwegig. Wenn 3 von 66 beschuldigten dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden, kann man daraus nichts schliessen. Dispense vom Zölibat für bereits verheiratete aus anderen Konfessionen übergetreten Priester sind eben Ausnahmen, die sicher nicht mit Missbrauchsfällen in Zusammenhang zu bringen sind.
      • user
        Hansjörg 13.04.2023 um 11:36

        Herr Ferdi23, führen Sie sich die Zahlen aus der Studie über Frankreich zu Gemüte. In 70 Jahren 3000 Täter und und 330 000 Missbrauchsfälle. Schlüsse aus einer grösseren und breiteren Datenquelle zu ziehen ergibt klarere Resultate.