Bild: Danie Franco/unsplash

Pro Life

Ein­sam gegen den Blitzausstieg

Die Zahl der­je­ni­gen, die per Ster­be­hilfe aus dem Leben schei­den, steigt an. Wer diese Pra­xis hin­ter­fragt, steht rasch allein da.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin «Schweizer Monat».

Ludwig A. Minelli ist ein freundlicher Mann. Der Gründer der Sterbehilfeorganisation Dignitas, der Gottlieb Duttweiler der Todesbranche, argumentiert trotz seiner 90 Jahre klar und deutlich. Wie bei allen Sterbehilfepionieren ist auch bei Minelli keine persönliche Sterbelust erkennbar. Ende März dieses Jahres hatte Exit, die «Vereinigung für humanes Sterben», in einem noblen Zürcher Zunfthaus zu einem Streitgespräch über Suizidhilfe eingeladen. Der Grund: der 40. Geburtstag der Organisation. «Geben Sie ungeniert Gas», ermunterte mich der Kommunikationschef von Exit vor der Diskussion freundlich, «bei uns gibt es keine Tabus.» Doch bereits kurz nach Gesprächsbeginn realisierte ich, dass ich mit meiner kritischen Haltung alleine war. Der bekannte Psychoanalytiker, Autor und Satiriker Peter Schneider, eigentlich als Sterbehilfekritiker eingeladen, beteuerte wortreich, dass es sich um ein Missverständnis handle und er mit der gängigen Praxis einverstanden sei. Karl Lüönd, als neutraler «Faktenchecker» eingeladen, sprach mir nach wenigen Minuten die Kompetenz ab, über dieses Thema zu sprechen. Der langjährige Chefredaktor der «Züri-Woche» hatte soeben ein Jubiläumsbuch über Exit publiziert, als Auftragsarbeit. Auf der kleinen Bühne des Zunfthauses wurde mir einmal mehr bewusst: Wer hierzulande die gängige Sterbehilfepraxis in Frage stellt, schafft sich keine Freunde, im Gegenteil. Nur Minelli blieb erstaunlich gelassen. Es sei ein Skandal, dass man unter der Berner Kirchenfeldbrücke während vieler Jahre keine Fangnetze für Selbstmörder installiert habe, meinte er mit ruhiger Stimme. Dank Dignitas könnten diese aber jetzt einen «humanen Abgang» wählen.

Meinen Einwand, dass man sie auch vom Selbstmord abhalten könnte, wie es der verstorbene Pfarrer Sieber getan hätte, wedelte er wirsch mit seiner Hand weg: «Das ist eine arrogante Haltung und verletzt den freien Willen jedes Sterbewilligen.» Selbstmord als absolutes Menschenrecht? Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen als sakrosanktes, nicht zu hinterfragendes Privileg? Für Minelli zweifelsohne. Jedermann, so betonte er an diesem Abend, habe Anrecht auf einen begleiteten Suizid, sofern er – die wenigen – gesetzlichen Voraussetzungen erfülle. Dabei spiele es keine Rolle, ob es sich um einen betagten 100-Jährigen oder um eine 22-jährige Frau mit Liebeskummer handle. Gegen solche Ansichten gibt es in der Schweiz nicht einmal mehr einen Aufschrei, selbst die Kirche und auch die Politik scheinen resigniert zu haben und überlassen die Deutungshoheit längst den Sterbehilfeorganisationen. Wer sich aber dagegenstemmt, wird mit dem Totschlagargument «religiöser oder konservativer Eiferer» kritisiert.

Der Einwand, dass ein Sterbewilliger auch durch sein Umfeld bei seiner Entscheidungsfindung beeinflusst und damit in den Suizid getrieben werden könnte, wird vielfach ausser Acht gelassen.

Während man vor vielen Operationen oftmals eine Zweitmeinung einholt, reicht bei einer Suizideinweisung die Unterschrift eines einzigen Arztes. Auch muss nach der erfolgreich verlaufenen Suizidbeihilfe kein Staatsanwalt beigezogen werden, um die Rechtmässigkeit des Vorgangs abzuklären, sondern es reicht mittlerweile ein Polizist oder sogar – wie in einigen Kantonen – ein Arzt, dem höchstwahrscheinlich die notwendige Objektivität abgesprochen werden muss. Fazit: Die Chance, in Zürich wegen Falschparkierens verurteilt zu werden, ist ungleich grösser als die Verurteilung wegen unzulässiger Suizidhilfe. Minelli ist der lebende Beweis. Bis anhin musste der Sterbehilfepionier weder die Buchhaltung noch eine Übersicht über erhaltene Legate offenlegen, obwohl bereits Heinrich Koller, der frühere Direktor des Bundesamtes für Justiz, «giftige Staatsanwälte» verlangte, um abzuklären, ob auch schon aus «Gewinnsucht» Sterbehilfe ausgeführt wurde.

Diese erstaunliche Kritiklosigkeit gegenüber der gängigen Praxis sagt viel über die hiesige Mentalität: Der Entscheid, den Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen, ist eine schweizerische Spezialität, fast schon ein nationales Credo, das jegliche Kritik und Nachfragerei verbietet. Während im Nachbarland Frankreich gerade intensiv über die Einführung des assistierten Suizids debattiert wird, haben im Jahr 2021 973 Menschen in der Schweiz «Freitodbegleitungen» in Anspruch genommen. Zuletzt machte der weltberühmte Regisseur Jean-Luc Godard im September 2022 vom Angebot Gebrauch. Ausgerechnet in Zeiten, in denen man lautstark über eine Annäherung an Europa und den Rest der Welt nachdenkt, wirkt die gängige Sterbehilfepraxis wie der Inbegriff helvetischen Widerstandsgeistes. Aus einer einfachen Bestimmung im Strafgesetzbuch, nach der Beihilfe zum Selbstmord nur aus «selbstsüchtigen Beweggründen» strafbar ist, hat sich in den vergangenen achtzig Jahren ein Businessmodell entwickelt, an dem mittlerweile fünf Organisationen partizipieren. Am bekanntesten sind Exit, die Vereinigung für humanes Sterben, welche laut NZZ als «gemeinnützige Organisation» über ein Vermögen von beinahe 30 Millionen Franken verfügt, und Dignitas (Motto: «Menschenwürdig leben – menschenwürdig sterben»). Eine Konzession oder gar einen Leumundsbericht braucht es für das Geschäft mit dem Tod nicht und es kann theoretisch von jedem praktiziert werden.

Immer liberalere Handhabung
Sensibilisiert für dieses Thema wurde ich durch Gespräche mit dem Zürcher «Stadtheiligen» Pfarrer Ernst Sieber, den ich gut kannte und der Gegner der gängigen Sterbehilfepraxis war, sowie durch einen kritischen Artikel, den das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» vor 24 Jahren publizierte. Eine Deutsche musste mitansehen, wie ihr Gatte, ein rüstiger Rentner, allmählich seinen Lebenswillen verlor und gegen ihren Willen 1996 mit Hilfe von Exit aus dem Leben schied. Später war ich als TeleZüri-Reporter an einer Pressekonferenz von Exit in einem Zürcher Fünfsternhotel. Es befremdete mich, dass die Sterbestatistiken wie Börsenkurse an die Wand projiziert und als Erfolgsmeldungen präsentiert wurden. Dabei stellte ich mir die Frage, ob all diese Suizidfälle wirklich notwendig oder möglicherweise sogar teilweise vermeidbar gewesen wären. Es ist doch erstaunlich, dass unser Alltag immer mehr durch juristische und auch moralische Restriktionen eingeschränkt wird, während für die Sterbehilfe, bei der es um das höchste menschliche Gut, nämlich das eigene Leben, geht, eine immer liberalere Handhabung und neue Betätigungsfelder gefordert werden. Ich glaube, gerade in diesem Bereich müsste der Staat eine verstärkte Kontrollfunktion übernehmen, auch im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger, die unbewusst zu einer Entscheidung gedrängt werden könnten, die sie gar nicht wollen. Es ist eigentlich paradox, dass Zigaretten- oder Alkoholwerbung als «lebensbedrohlich» eingeschränkt wird, während Sterbehilfeorganisationen ungehindert auf ihr Anliegen aufmerksam machen können, trotz wirklicher Lebensbedrohlichkeit.

Gerade die Coronazeit war der handfeste Beweis, dass die Sterbelust hierzulande nicht so gross ist, wie die Sterbehilfeideologen ständig propagieren. Die Zahl von täglich drei begleiteten Suizidfällen übersteigt die Zahl der Verkehrstoten inzwischen um das Fünffache. Ziel müsste es eigentlich sein, diese Zahl zu senken, aber das Gegenteil ist der Fall. So möchten die Sterbehilfeorganisationen ihre gesetzlichen Möglichkeiten – beispielsweise Suizidbegleitung auf alle Altersheime – ausweiten. Gerade im Umgang mit dem Tod wäre Rücksicht geboten, auch aus Respekt vor dem Leben als einmaligem Phänomen.

Nach dem Podium streckte mir ein pensionierter Staatsanwalt die Hand entgegen. «Sie haben in den meisten Punkten recht», meinte er, «aber Sie sagen es zu pointiert.»

Originalbeitrag auf der Webseite des Magazin «Schweizer Monat»

 


Matthias Ackeret

Matthias Ackeret ist Chefredaktor des Kommunikationsmagazins «persönlich».


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Bemerkungen :

  • user
    Stefan Fleischer 14.11.2022 um 12:40
    "Selbstmord als absolutes Menschenrecht"
    Solange unsere Kirchen nicht mehr zu sagen wagen, dass es kein absolutes Menschenrecht gibt, dass der Wille (das Recht) Gottes immer und überall über unserem Menschenwillen steht, verkommen die Menschenrechte immer mehr zu reinem Advokatenfutter. Wer sich durchsetzen kann, hat Recht., Wer nicht hat eben Pech.
    Alles schreit nach Gerechtigkeit. Doch geht es dabei meist nur um MEIN Recht. Ein solches egozentrisches (egoistisches?) Rechtsverständnis dürfte die Hauptursache der meisten Streitereien und Kriege sein.
    «Kehrt um zu ihm, Israels Söhne, / zu ihm, von dem ihr euch so weit entfernt habt.» (Jes 31,6)