Pater Markus Muff. (Bild: zVg)

Hintergrundbericht

Erin­ne­rungs­kul­tur – der Wunsch nach Frieden

Aktu­ell wer­den – ein­mal mehr – Angriffe, Kriege und Ver­wüs­tung damit begrün­det, dass Per­so­nen, eine Gruppe oder ein Volk sich an frü­her erin­nern und in der Erin­ne­rung den Anspruch für heu­ti­ges Han­deln gel­tend machen. Die Geschichte oder was man von ihr zu wis­sen meint, wird also nicht sel­ten eine Moti­va­tion für unser Han­deln in der Gegen­wart. Es gilt daher, his­to­ri­sche Fak­ten, deren Inter­pre­ta­tion und die dar­aus abge­lei­tete poli­ti­sche und reli­giöse Deu­tung gut zu unter­schei­den. His­to­rio­gra­phie und Erin­ne­rungs­kul­tur befin­den sich in einem wich­ti­gen Dialog.

Im Jahr 1992 machte der Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz in seinem Buch «Glaube in Geschichte und Gesellschaft» darauf aufmerksam, dass die Kultur der Erinnerung eine wesentliche theologische Aufgabe sei. Aus diesem Blickwinkel sind die folgenden Gedanken geschrieben – aus der Sicht eines Theologen, nicht aus der Sicht eines Historikers.

Der jüdische Kalender kann ein ausgezeichnetes Beispiel sein, um darzulegen, wie religiöse Erinnerungskultur gestaltet ist; die religiösen Feste, die im Verlauf des Jahres zu feiern sind, nehmen laufend Bezug auf die eigene Geschichte des Volkes Israel. Eine der wichtigsten Erzählungen wird anlässlich des Pessach-Festes im Kreis der Feiernden vorgetragen: der Auszug aus dem Sklavenhaus, die Befreiung aus Ägypten. Wer am Pessach-Fest teilnimmt, wird durch die Riten und die lebendig erzählte Geschichte direkt hineingezogen in das Geschehen des Auszuges. Eine gewisse Identifikation der Feiernden mit dem Exodus-Geschehen ist die Folge. Die Feier des Pessach-Festes kann eine individuelle und eine kollektive Identität erzeugen – die Zugehörigkeit der Einzelnen wird über diese spezifische Art der Erinnerungskultur gefördert.

Historiker melden Zweifel an, inwieweit der Exodus, der religiös so bedeutende Auszug aus Ägypten, historisch nachweisbar ist. Es gibt zunehmend die Tendenz anzunehmen, dass es sich bei der Schilderung dieses Ereignisses nicht um reine Geschichtsschreibung handeln könne. Der Heidelberger Professor Jan Assmann spricht in dem Zusammenhang von einem «Gedächtnisgeschichtlichen Ansatz», der nicht mehr danach fragt, «wie es eigentlich gewesen ist», sondern vielmehr, «wie es erinnert wurde». Der von Assmann geprägte Begriff des «kulturellen Gedächtnis» ist umfassender als eine bloss historische Faktensammlung. Kultur und Identität einer Gesellschaft oder Gemeinschaft erwachsen aus der eigenen Geschichte; wobei diese immer neu gedeutet und in der Gegenwart immer neu aktualisiert wird.

Die religiös geprägte Kultur der Erinnerung und die Historiographie kommen also bezüglich des Exodus zu divergierenden Schlüssen. In welchem Verhältnis stehen die beiden Sichtweisen zueinander?

Yoseph H. Yerushalmi zeigt in seinem Buch «‹Zachor›: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis» auf, wie Erinnerungskultur und Historiographie im jüdischen Kulturraum zusammenwirken. Die Historiographie bemüht sich in ihrer Forschung, eine möglichst präzise Rekonstruktion des historischen Sachverhaltes zu ermöglichen. Die Erinnerungskultur ihrerseits liefert eine Deutung, sie vermittelt die Bedeutung von historischen Ereignissen für die Gemeinschaft.
Historiographie und deutende Erinnerungskultur stehen also in einem nicht immer spannungsfreien Dialog. «Die Erinnerung ist angewiesen auf die historisch-kritische Reflexion; die Historiographie mündet in deutende Orientierung». So formuliert das Reinhold Boschki.

Was bezüglich des Spannungsfeldes «Erinnerung – Historiographie» in der jüdischen Religion gilt, das kann ebenso im Christentum beobachtet werden. Die historisch-kritische Methode der Geschichtswissenschaft kommt bei ihren Forschungen nicht immer zu den gleichen Schlüssen wie die Erinnerungskultur oder gar die Volksfrömmigkeit. Es besteht die Dringlichkeit eines offenen Dialoges. Es zeigt sich die Notwendigkeit der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung.
 


Benedikt von Nursia in der Erinnerung
Aktuell kann dieser spannungsvolle Diskurs am Beispiel der Figur des «Gründers des westlichen Mönchtums», Benedikt von Nursia, beobachtet und diskutiert werden. Die Frage ist: Welches ist die Biographie des Mannes aus Nursia und welche Bedeutung hat der Mönchsvater in der Erinnerungskultur der Benediktinerklöster, der Christen; welche Bedeutung hat er im Gebiet des heutigen Europas?

Eine eigentliche Biographie Benedikts im modernen Sinn liegt nicht vor. Doch gibt es – neben seiner Regel, die vielfältige Rückschlüsse auf ihren Autor zulässt – eine Sammlung von Erzählungen und Anekdoten zu Benedikt. Diese Geschichten wurden etliche Jahrzehnte nach seinem Tod (21. März des Jahres 547) zusammengestellt. Die erzählerisch-hagiographischen Geschichten wurden ziemlich sicher von Papst Gregor dem Grossen (590–604) gegen Ende des 6. Jahrhunderts im zweiten Buch der «Dialoge» gesammelt und redigiert. Zwischen dem Tod Benedikts und der Publikation des Buches dürften also rund 40 bis 50 Jahre liegen. Gregor kannte Benedikt nicht persönlich; er verlässt sich auf andere, auf Augenzeugen. Der Autor Gregor sammelt und verdichtet die Erinnerungen.

Im zweiten Buch seiner «Dialoge» berichtet Gregor der Grosse in einem (fiktiven) Gespräch mit dem Diakon Petrus von Benedikt als einem Beispiel im christlichen Glauben. Damit reiht sich dieser Text ein in die antike «Exempla-Literatur». Nicht in erster Linie die nüchterne historische Biographie eines Menschen steht im Zentrum – im Sinne einer Erinnerungskultur wird vielmehr die Bedeutung Benedikts hervorgehoben: sein Vorbild im Glauben.
Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Thema Frieden: Benedikt wird als Mann des Friedens gezeichnet. Für sich selbst und für die Menschen in seiner Umgebung tat er alles, um Verwirrung und Zerstörung zu vermeiden. Der Tenor des Buches lautet: Was zerbrochen ist, das fügt Benedikt wieder zusammen! Dieser besondere Charakterzug Benedikts ist der rote Faden, den das zweite Buch der «Dialoge» und dessen «Wundergeschichten» durchzieht. Er war ein Mann des Friedens, ein Mann der Einheit und der Ganzheit – so könnte die Erinnerung an Benedikt charakterisiert werden. Traditionell findet sich deshalb der Schriftzug «Pax» (lat. «Friede») über dem Eingang vieler Benediktinerklöster.

Stimmt diese religiös konnotierte Erinnerung mit den historischen Tatsachen überein? Kann die Erinnerungskultur, das Gedächtnis an den «Gesandten des Friedens» (pacis nuntius), auch mit historisch gesicherten Fakten belegt werden – oder ist die Figur des Benedikt von Nursia eine Erfindung für fromme Gemüter?

Die Historizität Benedikts
Geschichtswissenschaftler, Forscher und Historiker schätzen es nicht, wenn sie bloss eine einzige Quelle zur Verfügung haben. Um bezüglich einer historischen Beurteilung möglichst sicher zu gehen, ist die Auswertung mehrerer Quellen unerlässlich. Nebst Schriftstücken kommt auch der Archäologie eine grosse Bedeutung zu. Besonders bei der Beurteilung von religiösen Figuren und deren Biographie suchen die Fachleute auch nach Texten und z. B. archäologischen Belegen, die nicht im Auftrag religiöser Erinnerungskultur entstanden sind. Die professionellen Historiker sind sich natürlich bewusst, dass auch ihre möglichst getreue Darlegung der auffindbaren Fakten immer eine bestimmte Sichtweise und eine bestimmte Deutung beinhalten. Meinrad M. Hötzel, Doktorand in Geschichtswissenschaft, dazu: «Die Historiker werden heute eher verlegen, wenn man von ihnen eine möglichst präzise Rekonstruktion des historischen Sachverhalts verlangt.»

Die Historizität der Gestalt des Benedikt von Nursia (480–547) war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts kaum umstritten. Wie selbstverständlich ging man davon aus, dass Benedikts Klosterregel (Regula Benedicti) und deren gewaltige Wirkungsgeschichte Beleg genug dafür seien, dass der Mann tatsächlich gelebt habe. In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts erhielt diese Selbstverständlichkeit die ersten öffentlich geäusserten Anfragen und Risse. Besonders das als «Biographie Benedikts» (miss-)verstandene zweite Buch der «Dialoge» des berühmten Autors Gregor wurde ins Visier genommen. Alles Fake oder was?

Der Theologe Francis Clark hat «den Scharfsinn und den Arbeitsaufwand eines Gelehrtenlebens dafür eingesetzt, seine Theorie zu beweisen, der zufolge die Dialoge Gregors d. Gr. das Machwerk eines genialen Fälschers […] im späten 7. Jahrhundert gewesen seien». So urteilte Joachim Wollasch aus Freiburg in einem detailreichen Vortrag von 2006. Clark habe «eine Leitidee propagiert», die davon ausgeht, dass ein Autor wie Papst Gregor der Grosse keine Wundergeschichten verfasst haben könne. Die kritische Frage an Clark war: Kann es gut ausgehen, wenn ein Theologe des 20. Jahrhunderts mittels einer «Leitidee» festlegen möchte, was ein Autor des 6. oder 7. Jahrhunderts gedacht oder geschrieben haben sollte? Ein weiteres Argument gegen seine Fälschungs-These konnte Francis Clark ebenso nicht entkräften: Welches Motiv hätten die Fälscher gehabt? Darauf gab er keine befriedigende Antwort.

Der Frankfurter Historiker Johannes Fried gehört zu jenen, welche die Fälschungstheorie von Francis Clark ebenso ablehnen. Fried meint, dass dessen «Theorie über das Ziel hinausgeschossen» sei. In seinem 2004 veröffentlichten Buch «Der Schleier der Erinnerungen. Grundzüge einer historischen Memorik» zweifelt Fried indessen die Historizität des Benedikt von Nursia an. Der damalige Vorsitzende des «Verbandes der deutschen Historiker» hielt Benedikt für eine Art Kunstfigur – für das «Produkt einer erbaulichen Geschichte». Nicht die Echtheit der Dialoge Gregors stellte Fried in Frage, sondern den Protagonisten des zweiten Buches der «Dialoge» selbst.
Offensichtlich geht Fried von der Überzeugung aus, dass die Erinnerungskultur bezüglich Benedikt so viele Ungereimtheiten aufweise, dass die Historiographie abwinken müsse. Frieds Hauptargument besteht darin, dass ausserhalb des zweiten Buches der «Dialoge» keine biographischen Referenzen bezüglich Benedikt zu finden seien. Selbst archäologische Grabungen bei dem im Zweiten Weltkrieg total zerstörten Kloster Montecassino würden keine zusätzlichen Informationen zu Benedikt liefern.

Die Professoren Joachim Wollasch und Pius Engelbert sowie andere Historiker haben Vorarbeiten dafür geleistet, dass Prof. Dr. Christoph Dartmann von der Universität Hamburg in seinem im November 2017 erschienenen Buch «Die Benediktiner – von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters» die Einschätzung von Johannes Fried substantiell entkräften konnte. Die Historizität des Benedikt von Nursia scheint heute von der Mehrheit der Wissenschafter nicht mehr in Frage gestellt. Besonders Pius Engelbert macht darauf aufmerksam, dass – entgegen der oben zitierten Überzeugung Frieds – die Grabungsarbeiten in Montecassino «post bellum» tatsächlich Reliquien unter dem Hochaltar zu Tage gefördert hatten. Skelettreste eines älteren Mannes (wohl Benedikt) und einer älteren Frau (wohl Benedikts leibliche Schwester Scholastika) seien von den besten Anatomen Italiens untersucht worden. (Details in «Il sepolcro di San Benedetto» publiziert in «Miscellanea Cassinese 27, 1981).

Dennoch bleibt unbestritten, dass die Erinnerungskultur der Menschen auch um die Figur des Benedikt von Nursia Legenden und Geschichten hinzufügte, die den Anforderungen einer historisch präzisen Biographie nicht in jedem Fall entsprechen.
 


Benedikt als Bote des Friedens
Erinnerungskultur und Historiographie wirken auch im Kontext des Benedikt von Nursia am besten in einem offenen Dialog zusammen. Die historische Figur des Benedikt dient – ähnlich wie die Erzählung vom Exodus – seit rund 1500 Jahren auch dazu, eine individuelle und eine kollektive Identität zu erzeugen. Diese wird gestützt mit Geschichten, mit Riten und Erzählungen. Das findet besonders Ausdruck beim Hauptanliegen des Benedikt: der Wahrung des Friedens.

Die individuelle Identität dürfte sich am ehesten bei Mönchen und analog dazu bei Nonnen und Schwestern einstellen, die in der Nachfolge des Benedikt von Nursia ihr Leben nach seiner Regel ausrichten. Viele von ihnen nehmen ihren Auftrag ernst, Boten des Friedens zu sein. Die kollektive Identität orientiert sich wohl eher an seiner Rolle als «Patron Europas», an einem Titel, den Papst Paul VI. im Jahr 1964 verliehen hat. Benedikt wurde präsentiert als Bote des Friedens («pacis nuntius»). Wie weit erinnert sich die breite Öffentlichkeit an diese Gestalt – wo bleibt der Wunsch nach Frieden als Gegengewicht zu Angriffen, Kriegen und Kriegsgeschrei?

Die Erinnerung ist gemäss Johann Baptist Metz eine wesentliche Aufgabe der Theologie. Das Jahr 2024 bietet aktuell die besondere Gelegenheit, Benedikt von Nursia als Boten des Friedens wieder ins Bewusstsein zu rufen. Nicht nur, weil Kriege und kostspielige Vorbereitungen dazu auch in Europa wieder den politischen Alltag dominieren. Sondern auch aus dem Bemühen heraus, Elemente einer erprobten Friedenserziehung zu postulieren, die sich z. B. in der Benediktsregel finden lassen.

Vor 1500 Jahren – im Jahr 524 – begann Benedikt, einen alten Apollon-Tempel auf dem Berg bei Cassino neu zu nutzen. Zusammen mit seinen Helfern erbaute er über die Jahre nach und nach sein erstes «Benediktinerkloster», in der heutigen Ausführung ästhetisch in Anlehnung an die Akropolis in Athen gestaltet.
Auf dem Berg bei Cassino, 150 km südlich von Rom, kann man die imposante Klosteranlage besuchen, die nach dem zerstörerischen Bombardement während des Zweiten Weltkrieges wieder errichtet wurde. In den Fundamenten bleiben Reste des Apollon-Tempels sichtbar. Die Fundamente von Montecassino erinnern an den vorchristlichen, römischen Gott Apollon, den Gott des Lichtes, des Frühlings. Aber auch Dichtkunst, Gesang, Musik und die Künste generell wurden mit Apollon verbunden; dazu die sittliche Reinheit, die Mässigung und die Heilkunst. Dies sind alles menschliche Qualitäten, die auch Benedikt und seinen Klöstern ein zentrales Anliegen geworden sind. Die Benediktiner ergehen sich dabei nicht bloss in eine Erinnerungskultur. Sie wissen um diese grundlegenden menschlichen Qualitäten; sie üben sie ein (Askese) und leben sie: Mässigung, Gesang, Musik, Künste und sittliche Reinheit sind wesentliche humane Voraussetzungen für die Suche nach dem Frieden. Die Suche nach dem Ganzen, nach der Einheit in der Verschiedenheit, dieses Anliegen Benedikts ist historisch überprüfbar und wird heute noch als Ideal eines Benediktinerklosters hochgehalten.

Auf dem Berg bei Cassino schrieb Benedikt die Regel, die im Jahr 529 veröffentlicht wurde. «Meide das Böse und tue das Gute. Suche den Frieden und jage ihm nach!» (RB Prolog 17) . PAX – der Friede – war das Hauptanliegen des Benedikt von Nursia. In allen 800 Benediktinerklöstern findet sich dieser Wunsch nach Frieden in Stein gemeisselt – häufig oberhalb der Eingangspforte.

In einer Zeit, in der Kriegsrhetorik und kriegerische Aktivitäten die täglichen Nachrichten und auch manche politische Absichten prägen, ist es Aufgabe der Theologie, die Erinnerung an den Boten des Friedens, Benedikt von Nursia, wach zu halten. Erinnerungskultur und Historiographie können diesbezüglich im gesamten europäischen Kulturraum zusammen wirken – zum Wohl der Menschen! Eine zunehmende Identifikation mit dem Anliegen Benedikts nach Frieden ist keine Illusion – denn die historische Forschung ergibt, dass Benedikt selbst ein Mann des Friedens war und den Frieden auch selbst lebte.

 

Erinnerung konkret
Die Regel Benedikts wurde wohl im Jahr 529 in Montecassino publiziert; sie besteht aus einem Prolog und 73 Kapiteln. Sie ist auf weite Strecken eine Kompilation bereits bestehender Werke wie der Bibel, der «Regula Magistri» und manch anderer grundlegender Texte des christlichen Altertums. Die weise Mässigung, die sämtliche Überlegungen und Anordnungen durchdringt, ist die wohl bedeutendste Erneuerung und der originäre Beitrag des Autors der Benediktsregel.

Die Benediktinerklöster brachten ab dem 6. Jahrhundert in Europa konkrete gesellschaftliche Veränderungen und Verbesserungen ein. Es sei erinnert an die Spiritualität und an die Arbeitsmoral, die für die spätrömische Zeit ungewöhnlich war; Aristokraten und ehemalige Sklaven hatten im Kloster die gleichen Rechte und Pflichten – auch bezüglich der handwerklichen Arbeit.

Die Entscheidfindung wurde demokratisiert, was besonders das 3. Kapitel der Regel betont: «Wenn immer im Kloster etwas Wichtiges zu behandeln ist, so soll der Abt die ganze Gemeinschaft zur Beratung zusammenrufen.» Ungewöhnlich für das 6. Jahrhundert ist die explizite Feststellung, dass der Geist «oft einem Jüngeren offenbart, was die zutreffendere oder bessere Lösung sei» (RB 3,3).

Die Regel verlangt daher, für die Meinung der andern offen zu sein («obsculta» – höre genau hin!), besonders auch die jungen Menschen anzuhören und nicht stur an den eingeschlagenen Wegen festzuhalten.

Eine weitere Errungenschaft ist die «discretio»: Nicht alle Menschen benötigen das Gleiche – jeder hat andere Bedürfnisse und man muss darauf Rücksicht nehmen. Die Regel spricht sich gegen Gleichmacherei und gegen maximale Konformität aus. Das Individuum muss zu seinem Recht kommen.

Die Selbstsucht und der Egoismus werden in der Regel als Haltungen eines Menschen beschrieben, die es zunehmend abzulegen gilt. Reife Mönche zeichnen sich durch Altruismus und Verständnis für andere aus.

Die Sorge für die Armen und Obdachlosen ist gemäss Benedikt eine wichtige Aufgabe der Klöster – aus dem Bemühen heraus, den Benachteiligten und Kranken zu helfen, entstanden die Spitäler, die Krankenhäuser, Waisen- und Altersheime. 

Die Bibliotheken der Klöster wurden bewusst als Kulturträger aufgebaut; wertvolle Handschriften der Antike und Codices überlebten so manche Zensur und Anfechtung in den gut gesicherten Klosterbibliotheken. Das Engagement in Bildung und Erziehung leitet sich aus der Regel direkt ab, die «eine Schule für den Dienst am Herrn» als Ideal beschreibt.

Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Handwerk werden in den Benediktinerklöstern seit 1500 Jahren ebenso gefördert wie Kunst und Musik.


Pater Markus Muff OSB


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Bemerkungen :

  • user
    Pirmin Meier 15.03.2024 um 12:09
    Noch vor 20 bis 30 Jahren fiel mir auf, wie verschiedene meiner Weggefährten aus dem Ordensstand, durchaus "seriös Gläubige", etwa als Mitglieder von Vereinsvorständen in Zivilanzügen an die Sitzungen kamen, was indes in den letzten Jahren zum Teil bei den selben Personen kaum mehr feststellbar ist.

    Meines Erachtens muss man zwischen den verschiedenen Orden unterscheiden. Bei Dominikanern, Zisterziensern und Benediktinern gehört die Ordenstracht nun mal zum Erscheinungsbild in der Oeffentlichkeit, wohingegen etwa die Jesuiten und zum Beispiel die Pallotiner, etwa die von Gossau SG, schon immer Ordensleute in der Welt waren, was sich auch auf die Kleidung ausgewirkt hat. Der Pater, der jeweils am 15. August auf der Alp Brüdern im Entlebuch seit vielen Jahren die Bergmesse liest, reist stets "in Zivil" an, wobei aber selbstverständlich die Messe in einem mitgebrachten Gewand samt Stola usw. zelebriert wird. Die Messe an jenem Muttergottestag auf der Alp wird übrigens seit 1590 gefeiert in einer Kapelle, für die seit vielen Generationen die gleiche Älplerfamilie zuständig ist. Seit Jahren besteht die musikalische Begleitung aus einem Jodler-Ehepaar; die historische Glocke zeigt noch ein Bild von St. Joder, dem Wetterheiligen, sowie St- Niklaus, dem Passheiligen und ausserdem dem Kirchenvater Augustinus.

    Die Ausführungen über Historiographie und Erinnerungskultur oben bleiben bedenkenswert. Interessanterweise berufen sich die Begründungen der Mariendogmen von 1854 durch Papst Pius IX. und 1950 durch Papst Pius XII. sehr stark auf die Erinnerungskultur, was aus protestantischer Sicht anfechtbar zu sein scheint, aber nicht aus religionsgeschichtlicher Perspektive: Abendmahl und Messe waren in ihrer Feier schon immer Erinnerungskultur, "tut dies zu meinem Andenken!". Erinnerungskultur ist nicht alles, aber es gibt keine Liturgie ohne Erinnerungskultur. Nur wäre es eine Verkürzung, die Messe mit Erinnerungskultur schlechthin gleichzusetzen. Selbst und gerade Zwingli war klar, dass während der Abendmahlsfeier aktuell "etwas passiert", nämlich unter den Gläubigen, was er aber nicht mit der aktuellen Verwandlung von Brot und Wein verwechselt haben wollte. Dass "aktuell etwas passiert", gehört zum Geheimnis der Messe; wenn "nichts passiert" unter den Gläubigen, kann man es fürwahr bleiben lassen. Die sakralen Symbole sind dazu nicht Selbstzweck, sondern sollen auf dieses Geheimnis hinführen. Sonst würde es sich um "Theater" handeln. Auch die Gewandung des Priesters steht in diesem Zusammenhang, wobei aber zB. Ordensbrüder keine Priester sein müssen. Einen Spezialfall stellten vor ein paar Jahrzehnten die sog. Arbeiterpriester dar. Ich stelle mir indes vor, dass Sie am Kragen oder sonstwie an ihrer Kleidung zumindest einen sakralen Symbolgegenstand angeheftet hatten. Die Krawatte ist iistorisch eine Abgrenzung sowohl gegen den Adel als auch gegen den Stand des Klerus und Distanzierung vom Proletariat, also Bekenntnis zum Bürgertum. Pater Muff möchte wohl mit seinem Erscheinungsbild sich mutmasslich aber vor allem vom Standesdenken abgrenzen, vgl. ja auch dasselbe unter den Frauen von früher: Mädchen, Jungfrauen, Ehefrauen, Witwen, Klosterfrauen repräsentierten unterschiedliche Stände, was sich in Kleidung, Kopfbedeckung usw. Ausdruck verschaffte. Es handelt sich hier um Feststellungen, nicht um Kritik.
  • user
    Reiner K. Conrad 14.03.2024 um 17:48
    Trägt denn ein Benediktiner keine Kutte mehr? Und wie ist es mit einem Kreuzchen am Revers eines Strassenanzugs? Warum tritt der Herr Pater nicht als Mönch oder Priester in Erscheinung? Fehlt es am Mut? Wenn selbst die Geweihten keinen Mut zu ihrer Kirche und ihren Glauben zeigen, warum verlangt man dies dann von den sog. Laien? Vielleicht denken Sie, lieber Benediktinerpater Markus Muff OSB mal darüber nach! Mir fehlt Ihr Bekenntnis als Priester und Ordensmann!!
    Gott zum Gruss!
  • user
    Pirmin Meier 14.03.2024 um 11:04
    Pater Markus ist im Hinsicht auf die Kriegsrhetorik beizupflichten, hier ist an die Friedenstradition anzuschliessen, dem Papst zumindest gesinnungsethisch die Legitimation zu unterstützen.

    Von historisch-kritisch ist umso mehr die Rede, je kleiner die Zahl der Leute ist, welche noch die alten Sprachen beherrschen. Also zitiert man Sekundärliteratur, statt die Originale zu lesen oder generell die alten Geschichtsschreiber , Evangelisten und Paulus inbegriffen. Sicher ist, dass die Beziehungen Ägypten - Israel schon immer elementar waren, Ägypten eine alte Kultur hatte auch die Verschriftlichung betreffend. Die Kritik am Auszug aus Aegypten lässt sich schon bei Goethe nachlesen, in seinen Noten und Abhandlungen zum westöstlichen Divan, bei welchen er wohl mit Recht die 40 Jahre dieses Auszugs relativierte und die Proportionen herstellte, vgl. auch schon die Altersangaben von Propheten und Patriarchen im Alten Testament. Dies ändert aber nichts an der Historizität des grundsätzlichen Geschehens, am ägyptischen Einfluss usw., kann man ja bis zum Kult der Jungfrauengeburt verfolgen usw. Wer auch nur das Neue Testament im Original liest, dem fällt auf, dass durchaus das Niveau griechischer und römischer Geschichtsschreiber feststellbar ist und die Verfasser nicht als Märchenerzähler abgetan werden können; so wie noch im Weissen Buch von Sarnen, wo zwar Irrtümer nachweisbar sind, trotzdem der Verfasser in vielem ein Wissen hatte, wie es kein heutiger Historiker für sich behaupten kann; insofern sind zum Beispiel Flurnamen und Rechtsverhältnisse, z.B. die Haltungsbedingungen für Ochsen und dergleichen, realer Ausdruck der damaligen feudalen Ordnung, auch das Frauenbild steht bereits auf dem Niveau der Nachrichten z.B. über Dorothea, der Frau von Bruder Klaus, etwa im Satz "Frauen geben kalte Räte", was zugleich Kritik und Kompliment an den damaligen Frauen ist, die übrigens keineswegs einflusslos waren, da ist die Geschichte der Stauffacherin auch kein Märchen, eher schon eine exemplarische Erzählung. Die Geschichte sind noch lange so ernst zu nehmen wie das, was wir vielfach in der Tagesschau vom Geschehen etwa im Deutschland oder rund um die Ukraine erfahren, vieles ist nur vom Hörensagen und wird nachgeplappert.