Als Kind erlebte Michelle O'Neill den Nordirlandkonflikt hautnah mit. Besonders die Jahre zwischen 1969 und 1998, als sich Protestanten und Katholiken einen blutigen Kampf um die Identität ihrer Heimat lieferten, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Während die protestantischen Unionisten Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollten, versuchten sich die jahrzehntelang unterdrückten Katholiken von der britischen Besatzung zu befreien und forderten die Vereinigung mit der Republik Irland.
Damals kämpfte an vorderster Front die Irisch-Republikanische Armee (IRA) mit Bombenanschlägen, Entführungen und Raubüberfällen für ein unabhängiges Irland. Wobei die Konfessionszugehörigkeit zwar als identitätsstiftender Faktor immer noch Gewicht hatte, aber Glaubensfragen im politisch-militärischen Kampf des ausgehenden 20. Jahrhunderts stark in den Hintergrund rückten.
Michelle O'Neills Vater war Aktivist der weithin als Terrororganisation eingestuften IRA und sass dafür im Gefängnis. Später suchte er den friedlichen, politischen Weg der irischen Wiedervereinigung. Diese Erfahrungen haben die Politikerin geprägt, die 1977 im Süden Irlands geboren wurde, aber in Nordirland zur Schule ging. Eine kaufmännische Lehre brach sie mit Anfang 20 ab, um sich ganz der Politik zu widmen – das Ende des gewaltsamen Konflikts durch das sogenannte Karfreitagsabkommen hatte 1998 die Rahmenbedingungen dafür grundlegend verändert.
O'Neills politische Heimat wurde die katholisch geprägte Partei Sinn Féin, die sich bis heute für ein geeintes Irland einsetzt. Der Traum ihres Vaters blieb auch für sie wegleitend. 2005 übernahm sie dessen Sitz im Bezirksrat von Dungannon und South Tyrone und wurde danach immer wieder in die Nordirland-Versammlung, das Regionalparlament, gewählt.
Regierungserfahrung sammelte sie als Landwirtschaftsministerin, ab 2016 als Ressortleiterin für Gesundheit und von 2020 bis 2022 schliesslich als stellvertretende Erste Ministerin. Zudem übernahm die energische Politikerin den Vorsitz der Sinn Féin.
Am Samstag wurde Michelle O'Neill vom Regionalparlament in Belfast zur Ersten Ministerin und damit Regierungschefin Nordirlands gewählt. Das ist aus mehreren Gründen ein historischer Moment. Denn damit ist Michelle O'Neill nicht nur die erste Vertreterin der 2022 erstmals siegreich aus Parlamentswahlen hervorgegangenen Sinn Féin an der Regierungsspitze, sondern auch die erste Katholikin in diesem Amt. Bisher hatten immer Parteivertreterinnen und -vertreter des protestantischen Lagers die Regierung angeführt. Diese hatten sich in den vergangenen zwei Jahren gegen eine irische Patriotin als Erste Ministerin gewehrt.
Ihrem Traum von der Vereinigung mit der Republik im Süden könnte O'Neill nun ein Stück näher gekommen sein. Ihre Entscheidungen kann sie jedoch nur mit ihrer Stellvertreterin Emma Little-Pengelly von der protestantisch geprägten Demokratisch-Unionistischen Partei (DUP) treffen.
Die 47-Jährige zweifache Mutter O'Neill, die sich 2014 von ihrem Mann trennte, sagt über ihr neues Amt, dass sie eine «Erste Ministerin für alle» sein werde. Sie sei sich im Klaren darüber, dass die Verbitterung zwischen Protestanten und Katholiken über den damaligen Bürgerkrieg nach wie vor gross sei und sie die Vergangenheit nicht ändern könne. Doch, so zitierte sie die «NZZ am Sonntag»: «Wir müssen alle nach vorn schauen.»
Die grosse Aufgabe, die O'Neill nun zu leisten hat: Sie muss in Nordirland beide Lager von einer Einigung überzeugen und gleichzeitig die politische Auseinandersetzung mit der DUP und der Londoner Regierung bestehen, die der Brexit und Handelsfragen zwischen Nordirland und Irland zusätzlich verkomplizieren. Zwar leben in Nordirland laut der letzten Zählung erstmals mehr Katholiken als Protestanten, aber eine Mehrheit für die Vereinigung mit Irland liegt Umfragen zufolge in weiter Ferne. Demgegenüber sind in Irland offenbar die meisten dafür, inklusive die massgeblichen Regierungskreise in Dublin.
Unabhängig davon verfolgt O'Neill ein sozialpolitisch geprägtes Programm. So will sie etwa in den nordirischen Wohnungsbau und in den Ausbau des Gesundheits- und Bildungssystems investieren.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Michelle O' Neill wird wohl kaum stark an den Prinzipien der katholischen Soziallehre interessiert sein, ausser, dass in Irland, aus sozialpolitischen Gründen, katholische Schulen noch da und dort eine Bedeutung haben wie früher, wenn auch längst nicht mehr so generell wie einst unter vorwiegend klerikaler Führung. Auch Mischehen haben in Irland noch bis in neuere und neueste Zeit eine andere Bedeutung gehabt als bei uns, sie waren ein Politikum.
Ist ja schon erstaunlich, was katholische Frauen zu erreichen und zu leisten vermögen, wenn man sie nur lässt.