Abt Urban, Sie kennen das Kloster Einsiedeln seit rund 38 Jahren, seit Ihrem Besuch der Klosterschule von 1985 bis 1988. Was sind die wichtigsten Entwicklungen respektive Veränderungen, die Sie miterlebt oder als Abt selbst gestaltet haben?
Ich habe eine grosse Hochachtung vor den jungen Männern, die bei uns eintreten, um mit uns zusammen Gott zu suchen. Frühere Selbstverständlichkeiten, die einen solchen Eintritt vorbereiteten und unterstützten, gibt es heute praktisch nicht mehr. Die jungen Mitbrüder kommen oft nicht aus einem katholischen Umfeld, das sie auf einen solchen Weg vorbereitet hätte. Auch werden sie in ihrem Entscheid von ihren Familien häufig nicht unterstützt. Diese veränderten Umstände muss ich als Abt zusammen mit der Klostergemeinschaft in der Begleitung und Ausbildung von Neueintretenden berücksichtigen.
Auch für die Wallfahrten sind viele Selbstverständlichkeiten nicht mehr da, die in den 80er-Jahren noch gegeben waren. Dennoch kommen nicht weniger Menschen nach Einsiedeln, einfach anders als früher, weniger in grossen Gruppen. Für das Kloster stellt sich die Frage: Wie stellen wir uns auf diese Veränderungen ein? Welche Fragen und Anliegen bringen die Menschen nach Einsiedeln? Wie teilen wir die christliche Botschaft von der Gegenwart Gottes unter uns mit ihnen? Wie können wir ihnen über die modernen Medien etwas für ihr Leben mitgeben? Solche und andere Fragen halten unsere Gemeinschaft lebendig und helfen uns in unserer persönlichen Gottsuche. Langweilig wird es uns als Gemeinschaft also auch in Zukunft nicht werden.
Seit Ihrer Abtsbenediktion sind zehn Jahre vergangen. Welche Visionen für die Gemeinschaft und das Kloster konnten Sie umsetzen? Von welchen Ideen mussten Sie Abstand nehmen?
Als neuer Abt musste ich kein Programm entwerfen und ihm folgen. Vielmehr fand ich eine reiche Tradition vor, auf der ich aufbauen durfte. Und auch heute darf ich daran arbeiten, was uns als Gemeinschaft wichtig ist: Gott zu suchen und zu feiern, Menschen zu empfangen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, hier in Einsiedeln wertvolle Begegnungen zu machen – mit Gott, mit anderen Menschen zusammen und mit sich selbst. Abstand nehmen konnte ich von der Vorstellung, dass wir Mönche auf alle Fragen der Menschen Antworten haben müssen. Bei vielen Besucherinnen und Besuchern unseres Gnadenortes geschieht oft etwas, ohne dass wir davon erfahren oder etwas dafür machen müssten. Deswegen ist dies eine Gnade: ein Geschenk Gottes. Als Abt ist es meine Aufgabe, Raum und Zeit zu geben, dass solche Begegnungen mit der Gnade Gottes möglich sind. Nicht nur für die Pilgerinnen und Pilger, sondern auch für uns Mönche selbst.
Als Verantwortlicher einer Gemeinschaft und insbesondere eines so grossen Klosterbetriebs steht man auch immer wieder vor schwierigen Entscheidungen. Welche fielen Ihnen nicht leicht?
Zuerst darf ich festhalten, dass es für mich persönlich bereichernd ist, Verantwortung zu übernehmen. Dabei muss ich die Verantwortung nicht allein tragen. Auch im Kloster ist es wichtig, die richtigen Menschen um sich herum zu haben, mit denen ich meine Verantwortung teilen kann. Mein Wahlspruch «Adiutor in Christo – Mitarbeiter in Christus» (Röm 16,9) zeigt dann auch, dass ich gerne Prozesse ermögliche und anderen die Möglichkeit gebe, ihre Talente zu entdecken und sich zu entwickeln. Bei geteilter Verantwortung ist es leichter, Entscheidungen zu fällen. Solche sind dann schwierig, wenn ich mich dadurch von Menschen trennen muss. Und sie fallen leicht, wenn ich dabei Menschen fördern kann. Ob ich angenehme oder unangenehme Entscheide treffen muss: In Christus habe ich dafür meinen letzten Bezugspunkt und Anker.
Die Kirche ist aktuell in einer Krise: allgemeiner Glaubensverlust, innerkirchliche Uneinigkeit über Reformen, Missbrauchsskandale usw. Früher gingen Erneuerungsbewegungen oft von Klöstern aus. Was trägt das Kloster Einsiedeln zu der von Papst Franziskus angemahnten Neuevangelisierung bei?
Hierzu stellen sich mir zuerst grundsätzlichere Fragen: Ob ein allgemeiner Glaubensverlust nicht zuerst eine Krise der Gesellschaft ist? Nimmt sich diese zurzeit nicht die Möglichkeit, die von uns allen zu bewältigenden Probleme ausserhalb von Tagesaktualitäten zu bedenken? Was heisst etwa der Verlust des christlichen Glaubens für das Zusammenleben und die Solidarität einer Gesellschaft? Was für die Würde des Menschen, für den Umgang mit künstlicher Intelligenz? Für die Sinnperspektive, vor der wir unsere Vergänglichkeit und die Fragen nach der Schöpfung und nach Frieden stellen?
Dann frage ich mich weiter, ob wir wirklich von einer Krise der Kirche sprechen können, oder ob es nicht um mehr geht. Unter dem Wort «Krise» verstehen wir vielfach, dass eine solche durch eine gute Krisenbewältigung behoben werden könnte. Wir befinden uns aber wohl in einem Wandlungsprozess, dessen Richtung und Ergebnisse wir nicht kennen. Papst Franziskus ist mir insofern eine Hilfe auf diesem Weg der tiefgreifenden Veränderungen, als dass er nicht verzagt und ängstlich, sondern verwurzelt im Glauben mutig vorangeht. Unermüdlich ruft er dazu auf, dass die Kirche sich nicht mit sich selbst beschäftigen, sondern missionarisch sein und ihre Botschaft zu den Rändern der Gesellschaft bringen soll. In diesem Sinn führt das Kloster Einsiedeln seit dem Missionsmonat Oktober 2019 die «Impulstage Einsiedeln»[1] durch. Diese Tage dienen der Ermutigung bei der Frage, wie Kirche sich erneuern kann. Auch unsere Präsenz an Orten, an denen man uns als Kloster kaum erwartet, kann dazu beitragen, dass wir Menschen überraschend mit der Botschaft des Evangeliums in Berührung bringen und sie zum Nachdenken anregen. Ich denke hier etwa an den dieses Jahr zum ersten Mal stattgefundenen «Klostermarkt» im Zürcher Hauptbahnhof oder unsere Präsenz in den Sozialen Medien.
Sie haben in mittelalterliche Germanistik zum Thema «Mystische Erfahrung im literarischen Dialog» promoviert. Sehen Sie in der Mystik Anknüpfungspunkte für die Erneuerung der Kirche?
Auf jeden Fall! Mystik sucht die Einheit mit Gott – und ohne Gott gelingt keine Kirchenerneuerung. Meine Arbeit beschäftigte sich vor allem mit dem 14. Jahrhundert. Dort kam in der sogenannten «Deutschen Mystik» der Gedanke der Gottesfreundschaft auf, der auf das Evangelium zurückgeht: «Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage» (Joh 15,14). Es ist mir ein Anliegen, Menschen zur Freundschaft mit Jesus Christus zu führen. Glaube als Beziehungs-Geschehen zu begreifen: Das ist mir wichtig. Darum habe ich 2018 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Quellen der Gottesfreundschaft». Ein grosses Vorbild der Mystik war schon immer die Gottesmutter Maria, die in einer einzigartigen Beziehung zu ihrem Sohn steht. An einem Marienwallfahrtsort wie Einsiedeln muss für mich darum die Mystik ihren Platz haben.
Als Abt des Klosters Einsiedeln sind Sie Mitglied der KOVOS sowie der Schweizer Bischofskonferenz. Diese haben zusammen mit der RKZ eine Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der Schweiz in Auftrag gegeben. Ein erster Bericht erschien am 12. September und sieht sich dem Vorwurf der fehlenden Wissenschaftlichkeit ausgesetzt, da er unter anderem nicht angibt, was überhaupt unter «sexuellem Missbrauch» verstanden wird, und die angegebene Zahl von 1002 Fällen weder belegt noch detailliert auflistet (z. B. nach Art des Übergriffs). Hat diese Kritik Auswirkungen auf die Fortsetzung der Studie?
Was mir generell seit diesem 12. September in der Öffentlichkeit fehlt, ist eine fundiertere Auseinandersetzung mit dieser Studie. Da sie einen wissenschaftlichen Anspruch hat, muss eine Auseinandersetzung mit ihr ebenfalls wissenschaftlich sein. Wie immer in der Wissenschaft ist Kritik nicht nur angebracht, sondern notwendig. Sie sollte jetzt in wissenschaftlichen Artikeln vorgebracht werden.
Wir sind mitten im Advent, in der Erwartung des kommenden Christus. Was verbinden Sie persönlich mit dieser Zeit?
Der Advent ist für mich eine Zeit der Sehnsucht nach der Ankunft Gottes in meinem Leben, im Leben meiner Gemeinschaft, im Leben der Kirche und der Welt. Je älter ich werde, desto wichtiger ist mir diese Zeit. An Weihnachten feiern wir das erste Kommen Christi in unserer Welt. Als Kind war das für mich der Höhepunkt. Heute hält in mir vor allem der Advent die Hoffnung wach, dass Christus immer der Kommende und dass er das Ziel meines Lebens ist. Darum mag ich diese Zeit und würde sie gerne noch länger geniessen. Dieses Jahr ist sie leider viel zu kurz.
Was wünschen Sie sich für Weihnachten?
Ich wünsche mir den Frieden von Weihnachten. Er hat in Bethlehem klein begonnen. Diese Logik von Weihnachten widerspricht einer gängigen Vorstellung von Gott. Dieser sollte wohl mit Gewalt unsere Kriege stoppen. Er wirft aber keine Bomben über den Kriegsgebieten dieser Erde ab; das wäre ja absurd. Gott wurde an Weihnachten als kleines Kind geboren. Das Licht von Bethlehem versucht seitdem, Lichterketten des Friedens zu bilden, damit Frieden sich ausbreitet und nach und nach die Welt verändern kann. Weihnachten braucht dazu uns. Unsere Herzen. Unsere Bereitschaft. Ich wünsche mir den Frieden von Weihnachten in unseren Herzen – damit in uns ein Licht brennt, das dem Frieden Christi den Weg zu anderen Menschen leuchtet.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
[1] www.impulstag-einsiedeln.ch
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Die genannte Kurzfassung von Leben und Bedeutung von Margaretha Ebner, aus der Überlieferungsgeschichte auch von Mechthild von Magdeburg, in der Festschrift "Mehr als Schwarz und Weiss" zu 800 Jahre Dominikanerorden (Regensburg, Pustet 2016) stammt natürlich von Abt Urban selber. Sein nicht nur von mir gerühmtes Hauptwerk trägt den Titel: "Mystische Erfahrung im literarischen Dialog - Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner", Scrinium Friburgense 25, De Gruyter, Berlin New York 2011, hat tatsächlich den Rang einer Habilitationsschrift, obwohl es sich "nur" um eine Doktorarbeit handelt, freilich von enormem methodischem und inhaltlichem Aufwand, mit dem Vorteil freilich, dass der damalige Pater Urban direkten Zugang zu den Codices277 und 278 von Einsiedeln unbeschränkten Zugang hatte. Notabene die beiden bedeutendsten handschriftlichen Dokumente in der Schweiz zur Geschichte der abendländischen Spiritualität, wenn wir von den Handschriften zu den Visionen von Bruder Klaus absehen, publiziert im Ergänzungsband zu Durrers Quellenwerk von 1919 im Jahre 1987 durch meinen Lehrer Pater Rupert Amschwand, mit Recht mit dem Innerschweizer Kulturpreis ausgezeichnet.
Mit diesen Dokumenten im Prinzip gleichwertig ist nur noch gerade das 1958 im Auftrag von Bundesrat Philipp Etter durch den Diplomaten Victor Umbricht und den TG Staatsarchivar Knöpfli in London zurückersteigerte "Graduale von St. Katharinenthal", zu ergänzen durch das einschlägige St. Katharinenthaler Schwesternbuch (Tübingen 1995), das über Visionsberichte in der Art des Tösser Schwesternbuches hinaus den direkten Kontakt von Meister Eckhart mit der Nonne Anna von Ramschwag dokumentiert. Unter dem Gesichtspunkt der Mystik ein absoluter Höhepunkt der Klostergeschichte in der Schweiz, wie sonst nur noch die von Urban Federer bearbeiteten Einsiedler Codices.