Erste Seite der Enzyklika «Mit brennender Sorge», Ausgabe des Bistums Speyer.

Hintergrundbericht

Geheimope­ra­tion Vatikan

1937 gelang es dem Vati­kan, im Ver­bund mit den deut­schen Bischö­fen die Enzy­klika «Mit bren­nen­der Sorge» ins Nazi-​Deutschland zu schmug­geln und deren Ver­öf­fent­li­chung bis zum letz­ten Moment geheim zu hal­ten. Ein kir­chen­ge­schicht­lich ein­ma­li­ger Vorgang.

Bereits ist eine gute Woche vorbei seit dem barbarischen Überfall der Hamas auf Israel. Und noch immer schüttelt die ganze Welt den Kopf, steht fassungslos vor der Frage: Wie konnte es dieser Terror-Organisation gelingen, mit Tausenden von Raketen, Gleitschirm-Kriegern und Boden-Stosstrupps ein Land zu überfallen, ohne dass dessen als weltbester gerühmte Geheimdienst imstande war, weder die eigene Armee noch die Zivilbevölkerung rechtzeitig vor der drohenden Katastrophe zu warnen. Erste Erklärungsversuche hören sich einigermassen hilflos an. Von mangelnder Vorstellungskraft, von erfolgreichen Ablenkungsmanövern ist die Rede, von verschlungenen Kommunikationskanälen, die in der Flut von Informationen nicht entwirrbar gewesen seien.

Hier ist nicht der Ort, solche Mutmassungen auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Die Rede ist vielmehr von einer andern Geheimoperation, einer völlig unblutigen und doch fast ebenso unvorstellbaren und ebenfalls wirkungsvollen: der päpstlichen Enzyklika «Flagranti Cura» (deutsch «Mit brennender Sorge») und der Art und Weise ihrer Veröffentlichung.

Wir schreiben das Jahr 1937: Mit buchstäblich deutscher Gründlichkeit hatten in unserem nördlichen Nachbarland vier Jahre zuvor die Nazis die Macht ergriffen und mit der Gestapo an der Spitze einen beispiellosen Unterdrückungs- und Überwachungsstaat etabliert. Trotz des kurz nach der Machtergreifung mit dem Vatikan abgeschlossenen Reichskonkordates verschlechterte sich die Lage der Katholischen Kirche Schritt für Schritt. Letzten Endes ging es um nichts weniger als die Verdrängung des Christentums aus dem öffentlichen Leben, ja um dessen eigentliche Vernichtung.

Wider die Vergötzung der Rasse
Als alle schriftlichen Beschwerden der Bischöfe zuhanden der Reichsregierung erfolglos blieben, drängten sie Papst Pius XI. zum Erlass eines Hirtenschreibens. Der Papst erliess in der Folge die an die ganze Kirche gerichtete Enzyklika «Mit brennender Sorge». Darin wird dem pantheistisch verschwommenen Gottesbegriff der Nazis, der die angeblich altgermanische Vorstellung eines düsteren, unpersönlichen Schicksals an die Stelle des Glaubens an einen persönlichen, liebenden Gottes setzt, eine klare Absage erteilt. Ebenso verurteilt die Enzyklika die Vergötzung der Rasse und appelliert stattdessen an die Gleichwertigkeit und gleiche Würde aller Menschen: «Die Gebote Gottes gelten unabhängig von Zeit und Raum.» Eine Verfälschung des christlichen Glaubens könne nur durch die römisch-katholische Lehre von der Einheit der Kirche verhindert werden. Diese Einheit bedinge wiederum den Primat des Papstes als Garanten der Einheit und Gewähr gegen Zerfall und Zersplitterung. Scharf verurteilt die Enzyklika den Versuch des Nazi-Regimes, eine von ihm gegängelte deutsche Nationalkirche an die Stelle der Kirche Christi zu setzen. Warnend wird auf das Negativbeispiel anderer Nationalkirchen verwiesen, deren spirituelle Erstarrung und Unterwerfung unter das staatliche Joch.
Eindringlich stellt das päpstliche Schreiben den Gläubigen die Sittenlehre und die sittliche Ordnung der Kirche vor Augen: Keine noch so hehren irdischen Ideale sind auf Dauer im Stande, die aus dem Christusglauben kommenden letzten und entscheidenden Antriebe zu ersetzen. Die Auslieferung der Sittenlehre an eine subjektive, mit den Zeitströmungen wechselnde Menschenmeinung öffne zersetzenden Kräften Tür und Tor. Die Enzyklika verwirft schliesslich mit eindrücklichen Worten auch die Nazi-Ideologie «Recht ist, was dem deutschen Volke nützt» und fordert stattdessen die Einhaltung des Naturrechts ein: «Nicht weil ein Recht nützlich ist, ist es Recht, sondern weil es gut ist, ist es nützlich.» Von dieser Grundregel losgelöst müsse der Grundsatz «Recht sei das dem Volke Nützliche» den ewigen Kriegszustand zwischen den verschiedenen Nationen bedeuten.

Kirchengeschichtlich einmaliges Ereignis
Am 14. März 1937 wurde die Enzyklika «Mit brennender Sorge» unterzeichnet. Der kirchengeschichtlich einmalige Vorgang besteht in der Art und Weise seiner Veröffentlichung, die am Palmsonntag, dem 21. März 1937, erfolgte. Trotz eines allgegenwärtigen totalitären Staatsapparates, der über schier unbegrenzte Überwachungs- und Unterdrückungsinstrumente wie die Gestapo verfügte, gelang es, die Enzyklika am 12. März 1937 heimlich ins Deutsche Reich zu schmuggeln. Die für die Verbreitung verantwortlichen deutschen Diözesanbischöfe gingen mit grösster Vorsicht und Geheimhaltung vor: In nachts abgedunkelten Druckereien wurde die Enzyklika gedruckt und Abschriften allen Klerikern zugestellt. Am Palmsonntag, dem 21. März 1937, wurde die Enzyklika in allen katholischen Pfarreien verlesen. Ein heute, in einer von Indiskretionen und Geschwätzigkeiten überschwappenden Zeit, schlicht undenkbarer und gerade deshalb vorbehaltlos Bewunderung erheischender Vorgang.

Das Nazi-Regime schäumte ob der öffentlichen Demaskierung seiner menschenverachtenden Ideologie vor Wut und v. a. vor Ärger darüber, dass ihr allgegenwärtiger Staatsapparat überlistet worden war. Noch in der Karwoche wurden sämtliche Druckereien entschädigungslos enteignet, mehrere Klöster und Bekenntnisschulen sowie theologische Fakultäten geschlossen. Auf Befehl von Hitler und Goebbels wurde eine Welle von Sittlichkeitsprozessen inszeniert, um die Glaubwürdigkeit der Katholischen Kirche in der Öffentlichkeit zu untergraben und insbesondere deren Jugendarbeit zu diskreditieren.

Zu diesem mutigen öffentlichen Protest gegen die Verstaatlichung Gottes bzw. die Vergöttlichung des Staates war keine andere Konfession in der Lage. Die Deutsche Evangelische Kirche mit ihrem Reichsbischof Ludwig Müller, die den berüchtigten «Arierparagraphen» übernommen hatte und sich als Erfüllungsgehilfe des Nazi-Regimes verstand, schon gar nicht. Auch nicht die zu Unrecht idealisierte Bekennende Kirche. Einer ihrer Gründer, der Hannoveraner Landesbischof August Marahrens, hatte Adolf Hitler in einem Telegramm höchstpersönlich zum Überfall auf die Sowjetunion gratuliert (vgl. das Buch von Karsten Krampitz, Jedermann sei untertan).

Die historische Leistung dieser Enzyklika wäre nicht möglich gewesen ohne das Erste Vatikanum und dessen dogmatische Ausformulierung des päpstlichen Primates. Am Vorabend der sich geradezu epidemisch ausbreitenden totalitären Ideologien wie des Nationalsozialismus und des Kommunismus, die ganze Völker in noch nie da gewesener Weise in ihren eisernen Griff zwangen und fremdbestimmten, erscheint das Erste Vatikanische Konzil als ein in der Tat providenzielles Ereignis.

Vor diesem Hintergrund ist es geradezu grotesk, wenn der Abt des Klosters Mariastein, Peter von Sury, im Zusammenhang mit der Publikation der Pilotstudie zu den Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche das Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils als «absolutes Unheil der Kirche» diskreditiert. Einmal abgesehen davon, dass es buchstäblich rückständig anmutet, wenn da einer hinter das Erste Vatikanum zurückgehen will: Wenn dies Ihr Ernst ist, verehrter Herr Abt, ziehen Sie bitte um Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen die Konsequenzen und wechseln Sie zu den Alt-Katholiken. Diese haben schon vor 150 Jahren das Erste Vatikanum abgelehnt. Und wo stehen sie heute? Gerade einmal 12 000 Mitglieder zählt dieser Liliputaner-Verein in der Schweiz mit ihren bald neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Da wäre eine Bluttransfusion bestimmt hochwillkommen.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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  • user
    Martin Meier-Schnüriger 16.10.2023 um 10:47
    Inhaltlich bin ich mit dem Artikel einverstanden: das 1. Vaticanum wird von progressiver Seite völlig zu Unrecht diskreditiert, wie auch sein "Vater", der selige Papst Pius IX. Etwas fragwürdig finde ich es hingegen, eine Schwesterkirche - und mag ihre Entstehung und ihre Lehre noch so dubios sein - mit "Liliputaner-Verein" zu bezeichnen. Dass die Alt- oder Christkatholiken in der Schweiz nur noch 12'000 Mitglieder haben, spricht für sich, ist aber kein Grund zur Schadenfreude. Hingegen trifft es zu, dass viele noch in der römisch-katholischen Kirche befindlichen Mitchristen bei den Christkatholiken besser aufgehoben wären, da diese all das, wovon jene träumen, längst verwirklicht haben. Und noch eine Randbemerkung: Dass Mariastein zu jenen Benediktinerklöstern zählt, die kaum noch Nachwuchs haben, müsste eigentlich zu denken geben ...