Haiti nach dem Wirbelsturm 2016. (Bild: United Nations, CC BY-NC-ND 2.0 Deed)

Weltkirche

Haiti – Von der Welt vergessen

Haiti lei­det seit Jah­ren: unter Natur­ka­ta­stro­phen, Krank­hei­ten, Hun­ger, Ban­den­kri­mi­na­li­tät und poli­ti­schem Chaos. Der Regie­rung ent­glei­tet zuneh­mend die Kon­trolle. Der Ruf nach inter­na­tio­na­ler Hilfe wird immer lauter.

Haiti gilt als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es wurde in den letzten Jahren durch Erdbeben und Wirbelstürme erschüttert. Gemäss UN-Angaben hat die Hälfte der Bevölkerung nicht genug zu essen. Doch nicht nur Nahrungsmittel fehlen, auch Medikamente und dringend nötiges medizinisches Material erreichen die Krankenhäuser nicht. Dazu kommt, dass die politische Lage seit Jahren instabil ist: Am 7. Juli 2021 wurde der amtierende Präsident Jovenel Moïse ermordet, die Täter nie gefasst. Sein Nachfolger, Ariel Henry, liess keine Wahlen und regiert das Land autoritär. Doch der Staat kontrolliert nur noch etwa die Hälfte des Landes – die andere Hälfte ist in der Hand unzähliger Banden.

Regierung weitgehend machtlos
Anfang der vergangenen Woche kam es zu massiven Ausschreitungen. Sr. Marcella Catozza, eine Franziskanerin aus Italien, ist seit Jahren in Haiti tätig. Sie berichtet gegenüber der Agentur «Fides»: «Die Banden stürmten alle Flughäfen des Landes, um Premierminister Ariel Henry zu verhaften, der aus Nairobi zurückkehrte, wo er das Abkommen über den Einsatz einer kenianischen Polizeitruppe in Haiti unterzeichnet hatte. Die Banden stürmten mehrere öffentliche Gebäude, darunter Gefängnisse, und private Gebäude, darunter das katholische Spital ‹St. Francis de Sales› in Port-au-Prince.

Jimmy «Barbecue» Chérizier, der Chef der Banden-Allianz «G 9», ein ehemaliger Polizeichef, erklärte öffentlich: «Wenn Ariel Henry nicht zurücktritt und wenn die internationale Gemeinschaft ihn weiterhin unterstützt, werden wir einen Bürgerkrieg haben, der zum Völkermord führen wird.» Sr. Marcella glaubt jedoch nicht, dass «Barbecue» der Drahtzieher der aktuellen Unruhen ist. «Es gibt einen politischen Drahtzieher, vielleicht den gleichen, der 2021 die Ermordung von Präsident Jovenel Moïse in Auftrag gegeben hat.» Die Banden sind mit hochmodernen Waffen und Mitteln ausgestattet, verfügen sogar über Drohnen, um die Bewegungen der Polizei aufzuspüren, die nicht mehr Herr der Lage zu sein scheint. Wer ein Interesse daran haben kann, Haiti zu destabilisieren, darüber kann Sr. Marcella nur spekulieren. «Seit einiger Zeit wird die Anwesenheit von mindestens fünf mexikanischen Drogenkartellen im Land registriert. Möglicherweise wollen sie Haiti zu einem ‹Niemandsland› machen, um ihren Kokainhandel nach Nordamerika und Europa besser steuern zu können. Durch seine zentrale Lage in der Karibik ist Haiti ein idealer Umschlagplatz für Kokain, das aus Kolumbien und Mexiko kommt und zu den reichen Märkten des Westens gelangt.»

Bandenkriminalität ist allgegenwärtig
Beim Angriff auf zwei Gefängnisse am vergangenen Wochenende kamen etwa 4000 Gefangene frei, Kriminelle, «die nun in der Hauptstadt frei herumlaufen und mit Sicherheit die Zahl der Bandensoldaten erhöhen werden», so Pater Massimo Miraglio, ein Kamillianer-Missionar und Pfarrer von «Unserer Lieben Frau von der Immerwährenden Hilfe» in dem abgelegenen Dorf Purcine. In der Provinz und am nördlichen Ausgang von Port-au-Prince wurden mehrere Polizeistationen angegriffen, niedergebrannt und verwüstet, darunter auch die Polizeistation von Bon Repos. Diese befindet sich in der Nähe des von den Kamillianern geleiteten Spitals und bot diesem Schutz. Beim Angriff wurden fünf Polizisten getötet.

Pater Massimo Miraglio, der seit fast zwanzig Jahren auf der Karibikinsel lebt und arbeitet, weist auf die grosse Unsicherheit der Bevölkerung hin, die von den täglichen Zusammenstössen und der Gewalt betroffen ist. «Das staatliche Spital in Port-au-Prince hat aufgegeben und ist seit einiger Zeit geschlossen», so der Kamillianer. «Das Spital der Diözese Port-au-Prince befindet sich im Stadtzentrum an einem sehr schwierigen Ort, in einem von Banden umkämpften Gebiet. Es wurde vor kurzem komplett umgebaut und ist gut ausgestattet. Unser Foyer Saint-Camille, so die letzten Nachrichten, ist in ernsten Schwierigkeiten, aber es ist geöffnet.»

Ausweg aus der Gewaltspirale in weiter Ferne
Bereits im Februar 2024 appellierte die katholische Bischofskonferenz von Haiti an die Regierung, «dem Leiden des Volkes sofort ein Ende zu setzen». Und weiter: «Wir haben genug! Drehen Sie den Bluthahn zu und hören Sie auf, die Toten zu zählen.» Sie drückten den Familien der Opfer ihre Verbundenheit aus und warnten vor einer Ausweitung der Gewalt. «Lasst uns alle unsere Kräfte mobilisieren, uns vereinen und uns gemeinsam, entschlossen und ohne Gewalt auf den Weg machen, der uns zu dem neuen Haiti führt, das wir uns alle wünschen.»

Der Ruf nach internationaler Hilfe wird immer lauter. Auch Pater Massimo Miraglio sieht keine andere Lösung. «Es ist dringend notwendig, dass die internationale Gemeinschaft eingreift, sonst wird es einen Punkt geben, an dem es kein Zurück mehr gibt, und die Zahl der Toten wird in die Tausende gehen», äusserte er sich gegenüber «Fides». «Die ernsthafte Krise dauert schon lange an, aber in der letzten Woche hat sie ein enormes Ausmass angenommen und Leiden und den Tod von Hunderttausenden von Menschen verursacht.» Der Hilfsappell ist auch an Papst Franziskus gerichtet, der «Haiti so sehr liebt».

Die UN-Sonderbeauftragte für das Karibikland, Maria Isabel Salvador, berichtete vor dem UN-Sicherheitsrat, dass etwa 300 Banden 80 Prozent der Hauptstadt Haitis kontrollieren. In den letzten drei Jahren wurden durch die herrschende Gewalt mehr als 300 000 Menschen vertrieben. Besonders Mädchen und Frauen leiden unter der Gewalt, es kommt immer wieder zu Vergewaltigungen und Misshandlungen durch die Banden. Patienten haben oft keine Möglichkeit, in ein Spital zu gelangen, da ihr Wohngebiet von Banden kontrolliert wird.

Die Vereinten Nationen wollen eine internationale Sicherheitsmission nach Haiti schicken, kommen bei dem Vorhaben aber nicht wirklich voran.

Haiti scheint von der Welt vergessen zu sein. Umso wichtiger ist die Präsenz der Katholischen Kirche, die in dieser Not bei den Menschen ist und das Leid mit ihnen teilt. Im Gespräch mit «Kirche in Not (ACN)» erzählte Max Leroy Mésidor, der Erzbischof von Port-au-Prince und Vorsitzenden der haitianischen Bischofskonferenz, vom Mut der Bevölkerung. Das Priesterseminar befindet sich in einem Viertel, das häufig Schauplatz von Schiessereien und Auseinandersetzungen ist, doch «die Seminaristen und Katecheten sind entschlossen, ihre Mission zu erfüllen. Deshalb bleiben sie hier, trotz aller Gefahren». Immer wieder werden Priester und Ordensleute entführt, doch auch sie bleiben ihrem Dienst treu. Gläubige besuchen trotz der Gefahren Kranke und nehmen am Gottesdienst teil. «Bei Prozessionen oder dem Kreuzweg, selbst im Stadtzentrum von Port-au-Prince, versammeln sich bis zu 50 000 Menschen. Manchmal bin ich sprachlos.»


Fides/Redaktion


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