Die Religion ist für Armenier wichtig. (Bild: Jacques Berset/«Kirche in Not (ACN)»)

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Har­ter Win­ter für Bergkarabach-​Flüchtlinge in Armenien

Mehr als 100 000 Men­schen sind 2023 aus dem von Aser­baid­schan mit Krieg über­zo­ge­nen Berg­ka­ra­bach geflo­hen. Arme­nien hat seine Lands­leute mit offe­nen Armen auf­ge­nom­men. Trotz­dem ist das Leben für viele schwer.

Kamela Baghdasaryuans neues Zuhause ist eigentlich keines. Nur eine einfache Baracke mit drei winzigen Zimmern und Wellblechdach, viel zu klein für fünf Menschen. Hier, gut 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Jerewan, hat die Familie nach der Flucht aus Bergkarabach eine notdürftige Unterkunft gefunden.
Zur Erinnerung: Nach einer monatelangen Blockade des Latschin-Korridors –dem einzigen Zugang nach Bergkarabach – und damit verbunden der Aushungerung der armenisch-christlichen Bevölkerung von Bergkarabach und einer anschliessenden Offensive kapitulierte Bergkarabach Mitte September 2023 vor dem militärisch weit überlegenen islamischen Aserbaidschan. Die Regierung in Baku kündigte an, zum 1. Januar 2024 alle staatlichen Institutionen und Organisationen der Republik Bergkarabach (Arzach) aufzulösen und Bergkarabach vollständig Aserbaidschan einzuverleiben.

Tränen schiessen in Kamelas Augen, wenn sie von den dramatischen Tagen im vergangenen September erzählt. «Wir konnten nicht einmal mehr Kleidung einpacken. Wir kamen mit fast nichts in Armenien an. Als wir dann in dieses Haus kamen, war es fast leer», erzählt Kamela Baghdasaryuan an ihrem wackeligen Esstisch und wischt sich wieder die Augen.

Auch jetzt hat die Familie kaum mehr als nichts, von Betten, nackten Glühbirnen an der Decke und etwas Kleidung abgesehen. Der Kühlschrank kommt von der armenischen Caritas; Betten und Bezüge waren Geschenke von Privatleuten. Ein kühler Luftzug fegt durch die Räume; an der Decke zeigen sich braune Feuchtigkeitsflecken. Doch mehr kann sich die Familie nicht leisten. In Bergkarabach arbeitete Kamela Baghdasaryuan in einer Schulküche, ihr Mann war Soldat. Die Familie hatte ein Haus und hielt noch einige Tiere. Doch in Armenien ist das anders: «Wir haben hier nach Arbeit gesucht, aber wir finden nichts», sagt sie.

Trotz Unterstützung durch Armenien reicht das Geld nur für das Nötigste
Vielen Geflüchteten geht es ähnlich. Ihre mehrheitlich von Armeniern besiedelte Heimat Bergkarabach hatte sich 1991 für unabhängig erklärt. Das hatte die internationale Gemeinschaft jedoch nicht anerkannt; nach internationalem Verständnis gehört die Region zu Aserbaidschan. Stalin hatte 1921 Bergkarabach der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan zugschanzt und damit den Grund für die blutigen Konflikte in dieser Region gelegt. Nach dem aserbaidschanischen Überfall im September 2023 floh fast die gesamte Bevölkerung binnen weniger Tage nach Armenien.

Die Regierung in Jerewan, Hilfsorganisationen und zahlreiche lokale Freiwillige versorgten die Flüchtlinge in kürzester Zeit mit dem Nötigsten und brachten sie in temporären Unterkünften unter. Man organisierte die Auszahlung von Renten und integrierte Zehntausende Kinder in lokalen Schulen. Auch können Flüchtlinge die armenische Staatsbürgerschaft beantragen.
 


Trotzdem ist das Leben vieler Flüchtlinge hart. «Diese Menschen brauchen alles, weil sie mit fast nichts kamen. Vor allem Unterkünfte und Einkommen, damit sie ein eigenständiges Leben führen können», sagt Lusine Stepanyan von der armenischen Caritas, die viele Flüchtlinge unterstützt. Bis Anfang Dezember haben nach offiziellen Angaben aber nur rund 5400 Flüchtlinge Arbeit gefunden.

Viele Menschen in der Region waren Bauern; doch in Armenien fehlen ihnen Felder und Maschinen. Auch andere Berufsgruppen haben es schwer: «Viele Flüchtlinge verfügen nicht über die nötigen Erfahrungen und Qualifikationen, die der armenische Arbeitsmarkt braucht», sagt Stepanyan. Und Jobs gibt es auch nicht im Überfluss; die Arbeitslosenquote liegt in Armenien bei fast 14 Prozent.

Viele Flüchtlinge überleben nur durch die monatlichen Geldzahlungen der Regierung. In den Wintermonaten gibt es noch zusätzliche Leistungen. Doch das Geld reiche nur fürs Allernötigste, klagt Kamela Baghdasaryuan: «Wir versuchen, damit warme Kleidung für die Kinder und Essen zu kaufen.» In kalten Winterwochen ist die Lage besonders schlimm: «Viele haben keine Heizstrahler, keine warmen Decken; manche schlafen auf dem kalten Boden, weil sie keine Betten haben. Kinder können manchmal nicht zur Schule gehen, weil sie keine warme Kleidung haben», sagt Caritas-Expertin Stepanyan. Für viele Flüchtlinge ist ein glücklicher Zufall, dass die Temperaturen seit einigen Tagen ungewöhnlich mild sind.

Armeniens Regierung arbeitet derzeit an einem Programm, damit mehr Flüchtlinge Arbeit finden. Auch bessere Wohnungen soll es bald geben. Noch sind keine Details bekannt. Kamela Baghdasaryuan träumt davon, eines Tages nach Hause zurückgehen zu können. Nach Bergkarabach, das sie als «Arzach» bezeichnet, mit dem Namen der international nicht anerkannten Republik: «Mein Mann würde unser Haus auch zwei, drei, viermal wieder aufbauen, wenn es nötig wäre. Arzach ist unsere Heimat, die wir niemals aufgeben.»

Neue Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan
Nach Wochen relativer Ruhe ist es am 13. Februar 2024 an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan zu Gefechten gekommen, bei denen vier armenische Soldaten getötet und ein aserbaidschanischer Soldat schwer verletzt wurden. Damit scheinen die Friedensgespräche trotz der Versprechungen auf beiden Seiten in der Sackgasse zu stecken, und es wächst die Angst vor einer möglichen Wiederaufnahme des Konflikts.

Der kürzlich wiedergewählte, autoritär regierende Präsident Aserbaidschans, Ilham Alijew, hat die Bedingungen für die Unterzeichnung des Friedensabkommens verschärft. So verlangt er gemäss «asianews» neu eine Änderung der armenischen Verfassung: Jede Erwähnung von Bergkarabach müsse gestrichen werden. Eine weitere Forderung besteht darin, dass Armenien militärisch nicht aufrüsten darf, andernfalls würde Aserbaidschan eine Militäroperation gegen Armenien starten. Der russische Politologe Arkadij Dubnov, ein langjähriger Berater der Geheimdienste mehrerer Länder, bezeichnete diese Forderung Bakus als absurd: «Das Nachkriegsarmenien ist nicht das Hitler-Deutschland der Nachkriegszeit.»

Schon früher verlangte Alijew, dass Armenien einen Korridor zur aserbaidschanischen Enklave Nakhičevan öffnen müsse. Die aserbaidschanischen Truppen, die dort – auf armenischem Gebiet notabene – auf strategisch wichtigen Anhöhen stationiert sind, werden nicht abgezogen, da er «die Absichten der Armenier im Auge behalten müsse».

In einem Interview mit «ZDFheute» vom 7. Februar 2024 hatte Hikmet Hajiyev, der aussenpolitische Berater des aserbaidschanischen Präsidenten, hingegen erklärt, dass für Aserbaidschan «jede Art von militärischem Engagement vorbei» sei, da Aserbaidschan durch die Eroberung von Bergkarabach seine territoriale Integrität wiederhergestellt habe.


KNA/Redaktion


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