Die Skyline der in die Höhe schiessenden Neubauten in Prishtina (Bild: Silvan Beer)

Hintergrundbericht

Im Span­nungs­feld der Iden­ti­tä­ten: Die katho­li­sche Kir­che im Kosovo

Die Men­schen im Kosovo ehren ihre Hel­din­nen und Hel­den, wie man es an vie­len ande­ren Orten Euro­pas kaum mehr tut. Die Erin­ne­rung an den Krieg in den Neun­zi­ger­jah­ren ist noch frisch. Eine grund­sätz­li­che poli­ti­sche Dring­lich­keit ist in der Begeg­nung mit Koso­va­rin­nen und Koso­va­ren spürbar.

Die konstante Bedrohung der eigenen Autonomie durch serbische Annektionsbestrebungen politisieren die Menschen fast zwangsläufig. Das noch junge Land kämpft nach Jahrhunderten der Besetzung durch verschiedene Fremdmächte um seine Selbstbestimmung; es ringt im komplexen Gefüge verschiedenster kultureller Prägungen um seine Identität und es gedenkt in diesem Prozess ihren Heldinnen und Helden. Einer dieser Helden ist in der Hauptstadt Prishtina omnipräsent – Ibrahim Rugova (1944-2006). Der Schriftsteller, Gelehrte, Politiker und erste Präsident des Kosovo kämpfte unerbittlich und dennoch gewaltfrei für die Autonomie seines Landes. Dabei pflegte Rugova eine komplexe und enge Beziehung zum katholischen Glauben. Es ist bis heute nicht gänzlich geklärt, ob Rugova kurz vor seinem Tod zum Katholizismus konvertierte. Man hört sehr verschiedene Vermutungen, die unterschiedlich stark politisch und emotional aufgeladen sind, wenn man Kosovarinnen und Kosovaren danach fragt. Unbestreitbar ist jedoch, dass für Rugova, der profunde Kenntnisse der kulturellen und religiösen Geschichte seiner Heimat hatte, die katholische Kirche eine zentrale, ja existenzielle Rolle in der Zukunft des Kosovos einnehmen musste. Deutlich sichtbar ist diese Bedeutung, die Rugova der katholischen Kirche beimass, in einem Projekt, das ihm, neben der Gründung einer Don Bosco Schule, bis an sein Lebensende eine Herzensangelegenheit war – dem Bau einer katholischen Kathedrale in Prishtina.

Die Mutter Teresa Kathedrale in Prishtina kann als ein Knotenpunkt der kosovarischen Geschichte betrachtet werden. Viele politische und kulturelle Stränge, die für die Identität dieses jungen Landes so wichtig sind, kommen an diesem Ort zusammen. Vom Kirchturm aus ist im Gewimmel der Hauptstadt der Palace of Youth and Sports zu sehen, ein monströser kommunistischer Triumphbau im brutalistischen Stil, der unter Tito errichtet wurde. Er zeugt von der Zeit, in der der Kosovo eine kleine Provinz in Jugoslawien war, das schliesslich so unheilvoll auseinanderbrach und von einem Krieg heimgesucht wurde, wie man ihn damals in Europa kaum für möglich gehalten hatte. Der Rohbau einer serbisch-orthodoxen Kirche auf dem nahegelegenen Universitätsgelände zeugt von dieser Zeit des Zerfalls, der Fremdherrschaft und des Krieges. Der Bau wurde nach Ausbruch des Krieges nie fertiggestellt. Ein grosses goldenes Kreuz auf dem Dach hebt sich eigenartig von dem rohen Mauerwerk ab. Die Kirche wird gemeinhin als Ausdruck des serbischen Machtanspruchs wahrgenommen, der sich ebenfalls in der Städteplanung ausdrückte. Bis heute werden christliche Symbole in der zu 95 % aus Muslimen bestehenden Bevölkerung oftmals mit dem serbischen Herrschaftsanspruch assoziiert.

 

Der in der Don Bosco Schule wirkende katholische Priester Don Dritan erzählt aus eigener Erfahrung, dass sein Kollar nie Anstoss erregt, aber dass sein Kreuzanhänger gelegentlich eine Hürde in der Begegnung mit Muslimen ist. Es braucht Zeit, sagt er, bis wirklich verstanden wird, dass das Kreuz für Jesus Christus steht und nicht für das serbische Regime, das sich diesem Symbol bemächtigte. Das Trauma der Jahrzehnte der politischen Unterdrückung durch die serbische Obrigkeit ist noch frisch. Die Menschen haben Schweres erlitten und das durch ein Regime, das sich mit christlichen Symbolen schmückte und den eigenen Machtanspruch religiös zu legitimieren versuchte. Der Rohbau der Kirche erinnert an diese Erfahrung – ein pompöses Kreuz auf dem leeren, unbelebten Körper einer Kirche, die aus politischem Kalkül errichtet worden ist. Die Zukunft des Baus ist unsicher. Eine gewisse Ratlosigkeit herrscht, was damit geschehen soll. Manche sehen darin ein wichtiges Mahnmal, andere ein Ärgernis, das endlich verschwinden soll.

Ein weiterer Aspekt der kosovarischen Gesellschaft zeigt sich in der Skyline der überall in den Himmel schiessenden Neubauten. Es liegt ein Wandel in der Luft. Riesige Shoppingzentren werden errichtet. Wohnhäuser, die zum Teil Geldwäschegelegenheit, Spekulationsobjekt und Ausdruck eines echten wirtschaftlichen Aufschwungs sind, schiessen wie Pilze aus dem Boden. Es ist unklar, wohin sich das Land aus der bisher breitflächig herrschenden Armut und Perspektivlosigkeit aufschwingt. Viele betrachten diese Entwicklung mit Sorge. Sie fürchten eine identitätslose, kapitalistische Konsumgesellschaft, die die kulturellen Wurzeln unter sich begräbt und aus einem zwar wirtschaftlich prekären, aber kulturell lebendigen Land eine schlechte Kopie des amerikanischen Modells macht. Untrennbar gehören all die dickköpfigen Männer und Frauen, die sich mutig jeder Fremdherrschaft widersetzt haben, seien es die Osmanen, Kommunisten, Nazis oder Serben, zur kosovarischen und albanischen Geschichte. Namen wir Adem Jashari, Isa Boletini und das gemeinsam kämpfende Ehepaar Azem und Shota Galica sind noch heute Vorbilder und zu ehrende Gestalten, die selbst im Gespräch mit jungen Kosovarinnen und Kosovaren fallen. Eine glatte Konsumgesellschaft hat keine Verwendung für solche Persönlichkeiten. Selbstverständlich gab es auch sehr destruktive Aspekte wie etwa die Blutrache oder die stark patriarchale Struktur, die der Frau eine zutiefst fremdbestimmte Rolle aufzwang, die das Leben der alten Familienklans im Balkan ebenfalls prägten. Doch der gesichtslose Boom einer ungerichteten und identitätslosen Wirtschaft ist eine ganz neue Gefahr, die viel verspricht, mit Fortschritt lockt und dabei die eigene Bevölkerung auffrisst. Viele verlieren ihr Geld in dem betrügerischen Wohnungsmarkt und unzählbar sind die namenlosen Arbeiter, die auf den Baustellen verletzt werden, und ohne Unfallversicherung ihre einzige Existenzgrundlage – ihre Körperkraft – verlieren. Das Problem ist so schwerwiegend, dass sich der kosovarische Filmemacher Ilir Hasanaj in seinem Gegenwärtigen Filmprojekt diesen Männern zuwendet und ihnen Raum gibt, ihre bisher ungehörte oder ignorierte Geschichte zu erzählen.

 

Der Standort der Mutter Teresa Kathedrale selbst spricht, wie so vieles in diesem vitalen Land, von Geschichte und Ambivalenz. Die Kirche wurde an dem Ort gebaut, an dem zuvor eine leerstehende Schule gestanden hatte. Dabei handelte es sich um die einzige Schule, der es, während dem Bestreben der Serben, alles Albanische im Kosovo aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, erlaubt war, in albanischer Sprache zu lehren. Es gibt Menschen in Prishtina, die diese Ortswahl sehr bedauern und im Bau der Kirche eine unnötige Verdrängung eines geschichtsträchtigen und erhaltenswerten Ortes sehen. Grundsätzlich ist die Kathedrale nicht unumstritten. Manche fragen sich, wieso im Zentrum der Hauptstadt eine so grosse katholische Kirche gebaut wird, während der katholische Bevölkerungsanteil nur 3 % beträgt. In der Kritik am Bau der Kirche treffen sich interessanterweise die stark säkular ausgerichtete junge Generation und konservative Muslime. Aus beiden Lagern ertönt Kritik, die unter anderem Bezug auf das abgerissene Schulgebäude nimmt. Ein katholischer Priester vor Ort empfindet diesen Vorwurf als ein wenig müssig. Er sagt, dass das Schulgebäude jahrelang leer gestanden habe und dass niemand sich darum bemüht habe, es als Gedenkort zu erhalten. Zudem ist im Untergeschoss der Kirche ein weitläufiger Event- und Kulturraum eröffnet worden, der dezidiert allen Bewohnerinnen und Bewohnern Prishtinas, egal welcher religiösen Zugehörigkeit, offensteht. Er empfindet das Wirken der Kirche eher als Fortsetzung der Arbeit, die in der Schule geleistet wurde, und nicht als dessen Verdrängung. Insbesondere, da die katholische Kirche eng zur albanischen Geschichte und Kultur gehört.

Das erste erhaltene Literarische Werk in albanischer Sprache ist ein theologisches Traktat des Bischofs Pjetër Bogdani (1630-1689) und das überhaupt älteste albanische Schriftstück, das man jemals gefunden hat, ist eine Übersetzung der Taufformel. Zudem waren immer wieder katholische Geistliche an vorderster Front im Unabhängigkeitskampf Albaniens und des Kosovos beteiligt. Nicht zuletzt der Franziskaner Shtjefën Gjeçovi, der ein bedeutender albanischer Ethnologe war, der als erster das albanische Gewohnheitsrecht – den Kanun­ –, das seit Jahrhunderten das Leben in der Region prägt und bis heute nachwirkt, verschriftlichte und 1929 von serbischen Nationalisten erschossen wurde. Die Irritationen und Bedenken der Bevölkerung sind ernst zu nehmen und doch gehört zum komplexen Geflecht von Identitäten und Prägungen dieser Region eine über tausend Jahre andauernde Zeit des katholischen Albaniens, die erst durch die Eroberung der Osmanen, ihre vierhundert Jahre dauernde Herrschaft und später dem religionsfeindlichen Wirken der Kommunisten zu einer solch kleinen Randerscheinung gemacht wurde.

 

Das Innere der Kirche zeugt von dieser engen Beziehung zwischen Kirche und albanischer geschichte, Sprache und Kultur. In Stein, Glas und Skulptur erzählt der Bau sowohl die Heilsgeschichte Gottes und ­– davon durchwirkt – ebenfalls die Geschichte der katholischen Kirche in Albanien. Die albanische Sprache ist auf jedem der Fenster präsent – ein deutliches Zeichen, das im Kosovo starke politische Konnotationen trägt. Studiert man die reich ausgestatteten Glasfenster, wird den meisten Albanien in einer ganz neuen kirchengeschichtlichen Bedeutsamkeit begegnen. Die erzählte Geschichte beginnt mit Petrus und Paulus. Letzterer schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Rom, dass er selbst in Illyrien – das Gebiet des heutigen Albaniens – das Evangelium predigte. Wir begegnen frühchristlichen Märtyrern wie den beiden Steinmetzen Laurus und Florus, die der Legende nach lebendig begraben wurden, weil sie sich weigerten, an einem heidnischen Tempel mitzubauen. Der heilige Hieronymus, der die Bibel in Latein übersetzte und einer der prägendsten unter den Kirchenvätern war, wurde in dieser Region geboren. Ebenso wie Kaiser Konstantin, der das Christentum zur römischen Staatsreligion erhob und das Konzil von Nizäa einberief, das ebenfalls auf einem der Fenster dargestellt wird. Wir treffen auf Skanderbeg, der von Papst Calixtus III. den Titel «Athleta Christi» verliehen bekommen hat; auf den oben erwähnten Pjetër Bogdani, der sich für den Widerstand gegen die Osmanen einsetzte und deswegen ermordet und an die Hunde verfüttert wurde. Es wird den 38 Märtyrern gedenkt, die unter der kommunistischen Diktatur Enver Hoxhas wegen ihres Glaubens ermordet wurden. Die tiefe Freundschaft zwischen Johannes Paul II. und Mutter Theresa ist dargestellt. Direkt daneben Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus, die sich brüderlich die Hand reichen. Es ist eine gross angelegte Geschichtsschau der Kirche in Albanien mit ihren Heiligen und Märtyrern, die in der Grundsteinlegung der Kathedrale im Jahre 2005 unter Mitwirkung von Ibrahim Rugova endet. Die Geschichte der Kirche, ein genuiner und wichtiger Aspekt der grossen und reichen Geschichte Albaniens wird hier erzählt, die durch alle Verfolgung und Unterdrückung hindurch bis heute fortlebt. Das alles wird überblickt von einer Statue des auferstandenen Christus hinter dem Altar – ein starkes Zeichen der Hoffnung in einem Land, das vor wenigen Jahren von einem schrecklichen Krieg heimgesucht wurde und bis heute seine Autonomie bedroht sieht. Zu seiner Rechten steht Mutter Theresa, die grosse albanische Heilige, der die Kathedrale geweiht ist. Ihre Lebensgeschichte wird in den Fenstern im Chorraum erzählt. Ihr gegenüber steht die selige Muttergottes. Die beiden Frauen blicken sich durch ein zwischen ihnen hängendes, durchstochenes Holzkreuz hindurch an.

Im Kosovo liegt ein Wandel in der Luft. Das fühlen die Einheimischen und sogar Reisende, die wiederholt das Land besuchen. Immobilienpreise steigen an. Aus der Diaspora auf der ganzen Welt fliesst Geld und Gedankengut in das kleine Land. Eine neue Generation von Kunstschaffenden meldet sich zu Wort. Viele verlassen das Land. Aber viele bringen auch Neuigkeiten und Innovation mit aus der Fremde. Traditionelle, noch aus dem Kanun stammenden Werte prallen auf einen westlichen Individualismus. Die noch heute stark vom Primat des Kollektivs geprägte Kultur muss plötzlich Rollenbilder ganz neu verhandeln. Wohin dieser Wandel führen wird, ist schwer zu sagen. Rugova wünschte sich ein Land, das dezidiert auf den Westen hin orientiert ist. Es muss offenbleiben, wie er die gegenwärtige Entwicklung eingeschätzt hätte, aber der Einzug einer identitätslosen und unerbittlichen Konsumkultur war mit Sicherheit nicht, was ihm vorschwebte. Sicher ist, dass der Denker und Politiker, der sich selbst als «symbolischer Muslim» bezeichnete, innerhalb von dieser Westausrichtung eine existenziell wichtige Rolle der katholischen Kirche sah. Tief in der Geschichte Albaniens verankert, die albanische Sprache seit Jahrhunderten prägend und fördernd, in vielen Unabhängigkeitskämpfen an vorderster Front mit dabei ist die katholische Kirche – neben dem Islam, dem Kanun, der langen Tradition der rebellischen nordalbanischen Klans – einer der grossen kulturellen Pfeiler, auf denen dieses junge Land steht und von wo aus es in seine Zukunft schreitet.


Silvan Beer

Silvan Beer studiert gegenwärtig Theologie und Philosophie in Freiburg i. Ü.


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    Claudio Tessari 19.08.2023 um 07:49

    Dieser Bericht ist ein wenig einseitig dargestellt. Ob die Albaner Nachkommen der Illyrer sind, kann man in Frage stellen, aber spielt auch nicht so eine Rolle. Denn alle Italiener sind Nachkommen der Römer und beanspruchen ja auch nicht das ganze ehemalige römische Gebiet. Der Kosovo ist das Herz Serbiens, wo die Serben Widerstand gegen die Osmanen geleistet haben. VIDOVDAN. Nach dem 2. Weltkrieg lebten ca. 250'000 Albaner im Kosovo, heute sind es 2 Millionen. Die Religion spielte bei den Albanern eine sekundäre Rolle, da ihr Credo auch noch heute ist: "Die Religion des Albaners ist das Albanertum!" Ein katholischer Albaner würde zuerst einem muslimischem Albaner helfen, anstatt einem katholischen Kroaten. Heute wird allgemein die ganze Geschichte immer einseitig dargestellt, nicht umsonst heisst es: Gewinner schreiben die Geschichte. Seit dem Balkankrieg hat es in den muslimischen Teilen des Balkans eine Radikalisierung der Muslime gegeben, welche sich auf den authentischen Islam berufen wie zu Zeiten Mohammeds.

  • user
    stadler karl 19.08.2023 um 07:09

    Ein sehr interessanter, lesenswerter Bericht!