Um das Dokument nicht zu überladen, kommen diese 14 Themen (Nr. 33-62) nur mehr oder weniger ausführlich zur Sprache. Bevor diese «schweren Verstösse gegen die Menschenwürde» behandelt werden, klärt das Dokument den Begriff «Würde» mit Hilfe der Anthroplogie der Kirche. Dabei hebt sie auch die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» (1948) als wichtige Errungenschaft hervor. Der Abschnitt mit der grundlegenden Klärung des Würdebegriffes sowie mit der biblischen Perspektive und der Entwicklung des christlichen Denkens und mit dem Bezug auf zentrale Aussagen des II. Vatikanums (Gaudium et spes, Dignitas humane) ist sicher lesenswert (Nr. 7-16). Dazu gehört auch der zweite Abschnitt. Darin wird die Menschenwürde unter drei Aspekten betrachtet: Der Mensch als unauslöschliches Bild Gottes, die Erhebung der Menschenwürde durch Christus (Menschwerdung und Erlösung) und seine Berufung zur Gemeinschaft mit Gott (Nr. 17-21). Ein zentraler Satz sei hier zitiert: «Folglich glaubt und bekräftigt die Kirche, dass alle Menschen, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen und in dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Sohn wiedergeboren sind, dazu berufen sind, unter dem Wirken des Heiligen Geistes zu wachsen, um die Herrlichkeit des Vaters in demselben Bild widerzuspiegeln und am ewigen Leben teilzuhaben.»
In Nr. 22 wird die Pflicht eingefordert, «dass der Mensch auch danach streben muss, seiner Würde gerecht zu werden». Im dritten Abschnitt wird dargelegt, dass aus der Menschenwürde die Menschenrechte und -pflichten resultieren. Weil es Versuche zur Veränderung, ja sogar zu Auslöschung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gibt, werden in diesem Abschnitt wesentliche Grundsätze in Erinnerung gebracht. Die Würde jeder menschlichen Person existiert jenseits aller Umstände. Sie ist in keiner Weise von der Beurteilung der Fähigkeit zur Erkenntnis und zu freiem Handeln einer Person abhängig. Sonst wäre die Würde nicht dem Menschen innewohnend, unabhängig von seiner Konditionierung (Nr. 24). Etwas irritierend ist der folgende Zwischentitel: «Befreiung des Menschen von jedem moralischen und sozialen Zwang». Mit Blick auf die italienische Fassung wäre wohl das Wort Konditionierung besser gewählt als Zwang. Es geht in diesem Abschnitt um die Freiheit des Menschen: «Der freie Wille zieht im Hinblick auf das Gute oft das Böse dem Guten vor.» Wenigstens in ein paar Sätzen hätte formuliert werden können, woran sich der Mensch in seinem Handeln orientieren soll. Das Doppelgebot der Liebe und auch der Dekalog hätte an dieser Stelle als Orientierungshilfe wenigstens erwähnt werden können. Wer nur den obigen Titel liest, könnte auf die Idee kommen, auch die Kirche wolle sich von jeder Moral befreien. In einer Fussnote hätte man zudem auf die Enzyklika Veritatis splendor verweisen können. Kirchliche Dokumente zeichnen sich oft dadurch aus, via Fussnoten auf die Kontinuität des Lehramtes hinzuweisen bzw. diese abzusichern. Dignitas infinita lässt mehrheitlich (61 von 116 Fussnoten) Papst Franziskus aus den Enzykliken Fratelli tutti und Laudato si, dem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia sowie aus seinen Ansprachen zu Wort kommen. Immerhin werden in Nr. 34 die einschlägigen lehramtlichen Aussagen, welche schwere Verletzungen gegen die Menschenwürde anprangern, aus der dogmatischen Konstitution Gaudium et spes des II. Vatikanums zitiert.
Einige Aussagen über schwere Verletzungen der Menschenwürde
Bemerkenswert sind die Aussagen über die Praxis der Leihmutterschaft. Papst Franziskus hat sich schon öffentlich für ein weltweites Verbot eingesetzt. Das wird hier bekräftigt. Zentral sind die Aussagen, die in Anlehnung an die Instruktionen Donum vitae (1987) sowie Dignitas personae (2008) gemacht werden: «Das Kind hat daher kraft seiner unveräusserlichen Würde das Recht auf eine vollständige menschliche und nicht künstlich herbeigeführte Herkunft und auf das Geschenk eines Lebens, das zugleich die Würde des Gebers und des Empfängers zum Ausdruck bringt. Die Anerkennung der Würde der menschlichen Person schliesst auch die Anerkennung der Würde der ehelichen Vereinigung und der menschlichen Fortpflanzung in all ihren Dimensionen ein» (Nr. 49).
Im Zusammenhang mit der Euthanasie und dem assistierten Suizid hebt das Dokument die Notwendigkeit hervor, angemessene und notwendige Anstrengungen zu unternehmen, um das Leiden «durch eine angemessene palliative Pflege zu lindern und jeden therapeutischen Übereifer oder unverhältnismässige Massnahmen zu vermeiden» (Nr. 52). Zentral ist die Aussage: «Dem Suizidanten zu helfen, sich das Leben zu nehmen, ist daher ein objektiver Verstoss gegen die Würde der Person, die darum bittet, selbst wenn dies die Erfüllung ihres Wunsches ist. ...».
Die Gender-Theorie als Ideologie wird zurecht als sehr gefährlich eingestuft. Sie stelle eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht und höhle die anthropologische Grundlage der Familie aus, lautet der Vorwurf. Dem hält das Dokument entgegen, das menschliche Leben in all seinen Bestandteilen, körperlich und geistig, sei ein Geschenk Gottes. Es soll mit Dankbarkeit angenommen und in den Dienst des Guten gestellt werden. Der zweite Vorwurf gegenüber der Gender-Theorie besteht darin, sie versuche «den grösstmöglichen Unterschied» zwischen den Menschen als Lebewesen zu leugnen: die Geschlechter. Der Unterschied bewirke im Paar von Mann und Frau die bewundernswerteste Gegenseitigkeit und sei somit die Quelle jenes Wunders, das uns immer wieder in Erstaunen versetzt, nämlich die Ankunft neuer menschlicher Wesen in der Welt (Nr. 58). Alle Versuche seien abzulehnen, die den Hinweis auf den unaufhebbaren Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau verschleiern. Da könnte manche katholische theologische Fakultät ihren Forschungsschwerpunkt bei ihren Gender-Studien zugunsten von Dignitas infinita verlagern, indem sie analysieren, welchen Schaden sie schon angerichtet haben.
Zur Geschlechtsumwandlung betont Dignitas infinita, «dass jeder geschlechtsverändernde Eingriff in der Regel die Gefahr birgt, die einzigartige Würde zu bedrohen, die ein Mensch vom Moment der Empfängnis besitzt». Abschliessend wird auf eine Ausnahme hingewiesen: «Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person mit bereits bei der Geburt vorhandenen oder sich später entwickelnden genitalen Anomalien sich für eine medizinische Behandlung zur Behebung dieser Anomalien entscheiden kann.»
Einige kritische Anmerkungen
Das Recht auf Gewissensfreiheit hätte in diesem Dokument an etlichen Stellen ausdrücklich betont werden müssen, insbesondere bei den Themen Abtreibung, assistierter Suizid und Euthanasie, welche in der Gesellschaft und selbst in linken Kreisen der Katholischen Kirche zunehmende Akzeptanz erhalten. Wer die im Dokument aufgezeigten Irrtümer der Gender-Theorie nicht teilt, kommt zunehmend unter die Räder, besonders an Fakultäten, welche in verstärktem Mass intellektuelle Inzucht betreiben und nur denen eine Chance auf eine akademische Karriere ermöglichen, welche sich mit der Gender-Theorie konform äussern und dann selber «gendersensible hochschuldidaktische Schulung» betreiben. Die Gewissensfreiheit wird dort eindeutig mit Füssen getreten. Ebenso geraten Lehrerinnen und Lehrer unter den Druck von Schulleitungen und Bildungsdepartementen.
Könnte es sein, dass das Dokument des Dikasteriums für die Glaubenslehre auf dieses nachdrückliche Pochen auf das Recht auf Gewissensfreiheit verzichtete, um nicht den Vatikan selbst einiger Kritik auszusetzen? Bekanntlich hat der Vatikan als Staat während der Corona-Krise grundlegende ethische Prinzipien ausser Acht gelassen, als er faktisch eine Impf- und Boosterpflicht auf seinem Staatsgebiet selbst für genesene Mitarbeiter und Besucher durchsetzte. Angesichts der ohnehin schon langen Liste an Themen, hätte «Forschung am Menschen» auch Platz finden können. Schliesslich war die Milliardenfache Impfung von Menschen mit nur dürftig getesteten mRNA-Impfstoffen ein gigantisches Experiment. Auch die menschenunwürdige Forschung mit Embryonen und Föten sowie deren gezielte genetische Veränderung hätte wenigstens erwähnt werden können.
Die Proklamation von hehren Grundsätzen über die «unendliche Würde» des Menschen verpufft ins Leere, wenn die Katholische Kirche nicht selbst ihren Worten entsprechende Taten folgen lässt. Sie könnte den Schaden wieder einigermassen gut machen, indem sie eine seriöse Aufarbeitung der Corona-Krise gerade auch innerhalb der Katholischen Kirche und danach auch ausserhalb unterstützt.
Weiter drängt sich die Frage auf, weshalb Papst Franziskus die Päpstliche Akademie für das Leben, welche ursprünglich ganz dem Schutz der Würde des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick der Zeugung bis zum natürlichen Tod verpflichtet war, mit höchst fragwürdigen Statutenänderungen und gar bedenklichen Ernennungen geschwächt hat. Ob eine solche Akademie in der Lage ist, sich auch noch um die von Papst Franziskus hinzugefügten Themenbereiche Geschlechter- und Generationenforschung, die Humanökologie und das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt kümmern, erscheint deshalb mehr als zweifelhaft.
Nichtsdestotrotz ist das Dokument Dignitas infinita gesamthaft betrachtet als willkommenes positives Signal und Zeichen der Hoffnung zu werten.
Dikasterium für die Glaubenslehre, Erklärung Dignitas infinita über die menschliche Würde. Vatikan, 8. April 2024.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Nell-Breuning ist durch seinen Einfluss auf Quadragesimo anno sicherlich eine prägende Figur gewesen, wobei man Johannes Messner nicht vergessen darf, der wohl vielleicht noch grössere Bedeutung hatte. Es wäre wichtig, den Schriften dieser Denker wieder mehr Bedeutung zu geben. Für mich persönlich - das ist aber meine Meinung, ohne dass diese Richtigkeit beansprucht - ist es unverständlich, dass der von Ihnen genannte Rhonheimer, der mehr oder weniger nur ein Apologet von Friedrich August von Hayek ist, so viel Aufmerksamkeit erhält, währenddem intellektuelle Grössen wie Nell-Breuning oder Messner in Vergessenheit geraten sind.
dass dieser Text nur richtig verstanden und akzeptiert werden kann auf der Basis eines Gottesverständnisses, das Gott als wahren und personalen Gott, als ewigen, allmächtigen und allwissenden Schöpfer und Herrn des Universums akzeptiert, welcher in der Geschichte handelt und vom Menschen in seiner unendlichen Grösse und Würde geliebt und angebetet werden will. Oder anders ausgedrückt, die Würde des Menschen steht und fällt mit der der Würde, welche er seinem Schöpfer zugesteht.
Ehrlicher wäre der Hinweis darauf, dass nicht nur der Ursprung der christlichen Würde, sondern auch ihre Auswirkung ein anderer sein muss als die Mächtigen dieser Welt es so gerne hören!