Schauspieler Josh O’Connor in Alice Rohrwachers Film «La Chimera» (2023). Screenshot: criterion.com

Neuerscheinungen

«La Chi­mera» – Ein Film der Sehn­sucht nach dem Sakralen

Alice Rohr­wa­cher (*1981 in Fie­sole) ver­kör­pert eine neue Gene­ra­tion des ita­lie­ni­schen Auto­ren­ki­nos. Schon jetzt wird sie mit Legen­den des ita­lie­ni­schen Films wie Fel­lini und Paso­lini ver­gli­chen. Nach dem Stu­dium der Lite­ra­tur und Phi­lo­so­phie und Pro­jek­ten in Thea­ter und Musik dreht sie seit 2006 preis­ge­krönte Filme.

In ihrem neusten Spielfilm «La Chimera» zeigt sie uns eine Welt des lebendigen Mythos, in der Pilgerschaft und Flucht, das Heilige und das Profane ganz nah aneinanderrücken.

Der lebendige Mythos
In einem bezaubernd heruntergekommenen ländlichen Italien der 80er-Jahre kommt der getriebene Arthur – ob auf der Flucht oder auf der Suche ist nie so ganz klar – in ein Dorf. Er hat dort Freunde von früher – eine wilde Bande von Kleinkriminellen – und bezieht wieder seine schäbige Baracke am Rande des Dorfes. Doch der junge Mann kommt aus seiner Zerrissenheit nicht heraus. Seit dem Tod seiner Geliebten steht er zwischen den Welten. In Arthur erkennt man – in der ewigen Frische des Mythos – Orpheus auf der Suche nach Eurydike. Oder ist es Theseus, der im dunklen Labyrinth nach dem Ariadnefaden tastet? Der Schmerz, den Arthur in sich trägt, ist ein zeitloser, ewiger, eben ein mythischer Schmerz. Die Frage, die über allem hängt: Kann man hoffen, die Toten jemals wieder zu sehen?

Die lebendige Hoffnung
Arthur hat die geheimnisvolle Gabe, die Lage von etruskischen Gräbern zu spüren. Mit seinen Freunden nimmt er sein altes Geschäft wieder auf, diese Gräber zu plündern und die Grabbeigaben an eine Kunsthändlerin zu verkaufen. In dieser Spannung lebt er. Er fühlt das Sakrale wie Wasseradern, die die Welt durchziehen, und entweiht es immer wieder, indem er es zu Geld macht. Er begegnet überall Zeichen eines Jenseitsglaubens, nach dem er sich so sehnt, aber beweist, dass er ihn für Unsinn hält, indem er die Grabbeigaben stiehlt. Arthur wandelt zwischen den Welten und kann sich nicht für eine entscheiden. Schliesslich wird für ihn entschieden und wir bleiben mit der Bekräftigung zurück, dass man hoffen darf, wie es die Menschen immer schon getan haben. Und damit wird Alice Rohrwachers Film zu einem Geschenk an die Zuschauerschaft und die moderne Welt. Es ist nicht bloss die Nostalgie nach einer besseren Welt, in der sie mit uns schwelgt, auch wenn die körnigen, warmen Bilder dieses vergangenen Italiens wunderschön sind. Ebenfalls ist es nicht bloss die sture Behauptung einer Überzeugung, ohne die Zweifel der Gegenwart zu verstehen. Es ist lediglich eine herzhafte Ermunterung dazu, sich für die Hoffnung zu entscheiden, dass da noch etwas Tieferes ist, das unsere oftmals kalte und durchgetaktete Welt durchzieht.
 

Korrektur am 23. Oktober 2023: Perseus durch Theseus ersetzt.


Silvan Beer

Silvan Beer studiert gegenwärtig Theologie und Philosophie in Freiburg i. Ü.


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Bemerkungen :

  • user
    Martin Meier-Schnüriger 21.10.2023 um 15:06
    Der pensionierte Altphilologe kann's nicht lassen: Nicht Perseus tastete nach dem Ariadnefaden, sondern Theseus. Was dem Film natürlich keinen Abbruch tut ...
    • user
      Silvan Beer 23.10.2023 um 08:51
      Sehr geehrter Herr Meier-Schnüriger,

      Ich danke von Herzen für den Hinweis auf den peinlichen Patzer. Ich verwechsle die beiden immer wieder auch im Gespräch. Ich hoffe, das hat Sie und die Kollegen der Altphilologie nicht davon abgehalten, diesen schönen Film zu schauen.

      Herzliche Grüsse,

      Silvan Beer