In ihrem neusten Spielfilm «La Chimera» zeigt sie uns eine Welt des lebendigen Mythos, in der Pilgerschaft und Flucht, das Heilige und das Profane ganz nah aneinanderrücken.
Der lebendige Mythos
In einem bezaubernd heruntergekommenen ländlichen Italien der 80er-Jahre kommt der getriebene Arthur – ob auf der Flucht oder auf der Suche ist nie so ganz klar – in ein Dorf. Er hat dort Freunde von früher – eine wilde Bande von Kleinkriminellen – und bezieht wieder seine schäbige Baracke am Rande des Dorfes. Doch der junge Mann kommt aus seiner Zerrissenheit nicht heraus. Seit dem Tod seiner Geliebten steht er zwischen den Welten. In Arthur erkennt man – in der ewigen Frische des Mythos – Orpheus auf der Suche nach Eurydike. Oder ist es Theseus, der im dunklen Labyrinth nach dem Ariadnefaden tastet? Der Schmerz, den Arthur in sich trägt, ist ein zeitloser, ewiger, eben ein mythischer Schmerz. Die Frage, die über allem hängt: Kann man hoffen, die Toten jemals wieder zu sehen?
Die lebendige Hoffnung
Arthur hat die geheimnisvolle Gabe, die Lage von etruskischen Gräbern zu spüren. Mit seinen Freunden nimmt er sein altes Geschäft wieder auf, diese Gräber zu plündern und die Grabbeigaben an eine Kunsthändlerin zu verkaufen. In dieser Spannung lebt er. Er fühlt das Sakrale wie Wasseradern, die die Welt durchziehen, und entweiht es immer wieder, indem er es zu Geld macht. Er begegnet überall Zeichen eines Jenseitsglaubens, nach dem er sich so sehnt, aber beweist, dass er ihn für Unsinn hält, indem er die Grabbeigaben stiehlt. Arthur wandelt zwischen den Welten und kann sich nicht für eine entscheiden. Schliesslich wird für ihn entschieden und wir bleiben mit der Bekräftigung zurück, dass man hoffen darf, wie es die Menschen immer schon getan haben. Und damit wird Alice Rohrwachers Film zu einem Geschenk an die Zuschauerschaft und die moderne Welt. Es ist nicht bloss die Nostalgie nach einer besseren Welt, in der sie mit uns schwelgt, auch wenn die körnigen, warmen Bilder dieses vergangenen Italiens wunderschön sind. Ebenfalls ist es nicht bloss die sture Behauptung einer Überzeugung, ohne die Zweifel der Gegenwart zu verstehen. Es ist lediglich eine herzhafte Ermunterung dazu, sich für die Hoffnung zu entscheiden, dass da noch etwas Tieferes ist, das unsere oftmals kalte und durchgetaktete Welt durchzieht.
Korrektur am 23. Oktober 2023: Perseus durch Theseus ersetzt.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Ich danke von Herzen für den Hinweis auf den peinlichen Patzer. Ich verwechsle die beiden immer wieder auch im Gespräch. Ich hoffe, das hat Sie und die Kollegen der Altphilologie nicht davon abgehalten, diesen schönen Film zu schauen.
Herzliche Grüsse,
Silvan Beer