Der Wallfahrtsort des heiligen Charbel. (Bild: Fadi Jaber)

Interview

Liba­non – ein Land kämpft um sein Leben

Der Liba­non wurde frü­her die «Schweiz des Nahen Ostens» genannt. Heute sieht sich das Land mit einer Wirtschafts-​, Wäh­rungs– und Flücht­lings­krise his­to­ri­schen Aus­mas­ses kon­fron­tiert. Viele ver­las­sen ihre Hei­mat – vor allem Chris­ten. Swiss​-cath​.ch fragte bei Fadi Jaber nach, der selbst aus dem Liba­non stammt.

Sie waren vor Kurzem im Libanon. Wie hat sich Ihre Heimat in den letzten Jahren verändert?
Fadi Jaber*: Es ist sehr traurig: Das Land ist nicht mehr, wie es einmal war. Es gibt ca. 3,5 Millionen libanesische Bürgerinnen und Bürger, heute vorwiegend alte Menschen. Die Jungen – insbesondere Christen – wandern aus, um Arbeit zu finden und in Würde leben zu können. Dazu kommen im Libanon schätzungsweise bis zu 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge plus eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge sowie Hilfsarbeiter aus verschiedenen anderen Staaten.

Der Libanon leidet seit Jahren unter einer Wirtschafts- und Währungskrise. Die Katastrophe vom 4. August 2020, als bei einer Explosion von mehreren hundert Tonnen Ammoniumnitrat nahe dem Zentrum von Beirut mehr als 200 Menschen ums Leben kamen, hat diese Krise noch zusätzlich verschärft; vier von fünf Libanesen leben inzwischen unter der Armutsgrenze. Wie gehen die Menschen damit um?
Fast jede libanesische Familie hat Verwandte im Ausland, von denen sie so weit als möglich unterstützt werden. Andere Menschen leben von der Hilfe verschiedener Hilfsorganisationen und Kirchen. Einige leben wenn möglich von Tageslöhnen. Oder durch Kriminalität wie Stehlen oder Rauben, wobei die meisten Verbrechen durch die fremden Mitbewohner dieses Landes verübt werden. Nicht zu vergessen ist die Inflationsrate bis zu 600 Prozent und die Teuerung von bis zu 1000 Prozent.

Das kleine Land hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderes Land. Eine Rückkehr dieser Flüchtlinge ist nicht in Sicht. Welche Auswirkungen haben diese vielen Flüchtlinge auf das Leben im Libanon?
Es sind wie gesagt etwa 3,5 Millionen Libanesen. Dazu kommen über 3 Millionen Fremde. Die letzte Zählung, die auf ausländischen, europäischen Studien beruht, ergab, dass ca. 45 Prozent der jetzigen Bevölkerung des Landes Libanon Ausländerinnen und Ausländer sind. Können Sie sich das vorstellen? Wäre dies die Situation in europäischen Ländern, wären dadurch bereits verschiedene Regierungen zum Absturz gebracht worden. Die Auswirkungen sind enorm. Wirtschaftlich, ökonomisch, kulturell und nicht zuletzt: Die Infrastrukturen des Landes sind bereits kollabiert, da sie nicht für so viele Menschen gedacht und ausgerichtet sind.
 


Beim Besuch des libanesischen Premierministers Mohamad Najib Mikati unterstrich der Vatikan die Notwendigkeit, das friedliche Zusammenleben von Bürgern unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse zu festigen, um Frieden und Stabilität in der gesamten Region zu garantieren. Im Libanon sind 18 Glaubensgemeinschaften staatlich anerkannt, rund 40 Prozent Christen und ungefähr 60 Prozent Muslime. Wie sieht das konkrete Zusammenleben der verschiedenen Religion und Konfessionen aus?
Die Zahl der Christinnen und Christen im Libanon war einmal viel höher als in der Frage angegeben. Momentan sind es nicht annähernd 30 Prozent. Aber wen wundert das, wenn die westliche Welt die Christen so leicht bei sich aufnimmt und gleichzeitig politischen und wirtschaftlichen Druck auf die Regierung im Land und auf das Volk ausübt, um die Syrer – meistens Sunniten – im Libanon zu behalten. Dies wiederum, um politischen Druck auf die syrische Regierung ausüben zu können und um andere Ziele zu erreichen, die am Ende zugunsten des Westens gehen, nicht zuletzt, um sich von Flüchtlingsströmen zu befreien. Infolgedessen findet im Libanon eine grosse demografische Verschiebung zugunsten der muslimischen Gruppierung statt, besonders wenn verschiedene Stimmen lautstark fordern: «Man sollte die Syrer und auch die Palästinenser sich im Libanon einbürgern lassen.» In diesem Fall und schon jetzt ist der Libanon nicht mehr der Gleiche, der er einmal war: die Schweiz des Nahen Ostens, als die Christen politisch mächtig waren. All das ist dem «Ta'if-Abkommen» zu verdanken, das nach dem libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) in Saudi-Arabien geschlossen wurde. Trotzdem ist das Leben für die Christen im Libanon noch wertvoll und es wäre gut, wenn die ausgewanderten Christinnen und Christen zu ihren Wurzeln im Libanon und in Palästina zurückkehren würden. Die Libanesen sind allgemein offen gegenüber religiös anders Denkenden und sie lieben den Frieden und das Leben.

Wie sieht die Situation der Christinnen und Christen im Libanon konkret aus?
Zunächst sind die Christen selbst im Libanon untereinander politisch zerstritten. Im Weiteren sind ihre Möglichkeiten zur Einflussnahme und Entfaltung erheblich eingeschränkt, da die Christen in erschreckendem Ausmass mit dem Verlust ihres Einflusses, sei es im Finanz-, Banken-, Bildungs- oder Gesundheitssektor konfrontiert sind. Sie sind als Folge des grossen Zusammenbruchs, der das Land parallel zu der Krise traf, unter Druck geraten.
 


In der Bibel werden Städte im heutigen Libanon genannt. Welche Stätten sind heute noch für die Christinnen und Christen wichtig?
Es gibt zahlreiche Städte und Dörfer im Libanon, die für die Christen von immenser Bedeutung sind. Als Beispiele sind zu nennen:

Das «Wadi Qadischa» («Heiliges Tal») im Norden des Libanon mit den Klöstern «Deir Qozhaya», «Deir Mar Elisha» und «Deir Qannoubin».
«The Lady of Lebanon». Die Madonna thront in Harissa oberhalb der Stadt Jounieh;
Heiliger Charbel, Annaya;
Greek Orthodox monastery of Saint George;
«Our Lady of Matara»

Was wünschen Sie sich für Ihr Heimatland?
Friede, Stabilität, ein Land, wo die Kulturen, Konfessionen und Religionen in Frieden zusammenleben. Dass die Christen zurückkommen und die christlichen Werte wiederbeleben.
 

* Fadi Jaber wurde 1958 im Libanon geboren. Er lebt seit 1984 in Europa und seit 1990 in Chur. 2011 wurde er durch die Taufe in die Katholische Kirche aufgenommen und studierte anschliessend katholische Theologie. Er ist mit einer Schweizerin verheiratet.

 


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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