Die deutsche Politikerin Sahra Wagenknecht (Bild: Screenshot www.youtube.com/@SahraWagenknechtMdB)

Kommentar

Lifestyle-​Katholiken

Sarah Wagen­knecht wirft in einem Inter­view mit einer Schwei­zer Zei­tung der lin­ken Partei-​Elite vor, die wah­ren Sor­gen und Pro­bleme des Fuss­vol­kes nicht mehr ernst zu neh­men und statt­des­sen das Lifestyle-​Feeling einer eli­tä­ren Min­der­heit zu bedie­nen. Die Kri­tik gilt ana­log auch für die katho­li­sche Füh­rungs­schicht hierzulande.

Kürzlich gab Sarah Wagenknecht, Politikerin der deutschen Partei «Die Linke», einer grossen Schweizer Boulevardzeitung ein ausführliches Interview. Frau Wagenknecht kritisierte dabei sozialdemokratische und grüne Bürger und Politiker, die auf den Normalbürger herabblicken, ohne die Sorgen der Bevölkerung ernst zu nehmen. Sie verwendete dabei den Begriff Lifestyle-Linke, um die Geisteshaltung zu charakterisieren, der es nicht um das alte Ziel linker Politik geht, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, sondern nur noch darum, sich moralisch vom Rest der Menschen abzuheben. Durch eine möglichst gendergerechte Sprache und überall zur Schau gestellter Wokeness samt hysterischer Empörungskultur schottet sich eine kleine Elite von Bürgerinnen und Bürgern ab, die keinen Bezug mehr zum Fussvolk haben.

Würde man den Text von Frau Wagenknecht ein wenig anpassen und die linksgrünen Politiker durch katholische Landeskirchenräte, Theologen, Journalisten und Seelsorgern ersetzen, erkennte man darin die perfekte Beschreibung der katholischen Kirche in der Deutschschweiz. Auch wenn dieses Urteil nicht auf alle Exponenten der hiesigen Kirche zutrifft, leiden doch weite Teile – darunter auch Bischofsvikare, Generalvikare und Bischöfe –  an einer  akuten Wahrnehmungsstörung, wenn es um die Alltagsprobleme des kirchlichen Fussvolkes geht. Die Meinung, die Schweizer Kirche brauche ein Aggiornamento, steht in scharfem Kontrast zur Tatsache, dass die herrschende Nomenklatur in der Schweizer Kirche Scheinprobleme thematisiert, die das Leben der einzelnen Katholiken nicht tangieren. Zum Beispiel ist die Sorge des Baslers Bischofs Felix Gmür, queere und homosexuelle Katholiken würden durch Aussagen des Lehramts ausgegrenzt, zwar löblich, jedoch für die meisten Menschen in seiner Diözese so relevant wie die Frage für einen Industriearbeiter, ob auf seinem Lohnausweis die Anrede gendergerecht geschrieben wurde oder nicht. Ähnlich wie die Arbeiterschaft höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen jeder noch so woken Sprachanpassung vorzieht, wird auch der katholische Laie danach fragen, wie der Katholizismus sein Dasein konkret verbessern kann. Wir erleben in den letzten Jahren eine Pervertierung des Grundgedankens des Zweiten Vatikanums, das die katholische Lehre nutzbar machen wollte für die Lebensbedingungen und Probleme der Moderne. Anstatt die Kirche in den Dienst der Mehrheit der Menschen zu stellen und aus dem Evangelium und der reichen theologischen und philosophischen Tradition heraus Antworten für das 21. Jahrhundert zu finden, werden nun die tatsächlichen und eingebildeten Nöte Einzelner instrumentalisiert, um die kirchliche Lehre zu ändern und sich ansonsten aber aus der Verantwortung zu stehlen, wenn es darum geht, den Menschen durch den Glauben die Fülle des Lebens zu schenken. Denn es stellt eine intellektuelle und moralische Verweigerung dar, wenn Bischöfe und Theologie-Professoren immer wieder die alten Fragen nach Frauenordination, Änderung der Sexualmoral und Aufhebung des Zölibats aufwerfen, jedoch all dasjenige Leid der heutigen Menschen ignorieren, das in ihrem theologischen Weltbild keinen Platz hat.

Diese Scheuklappenmentalität und das krankhafte Festhalten am Heidiland-Image samt Heidiland-Kirche ist keine exklusive Eigenschaft der katholischen Führungsriege, sondern – wie das Interview von Frau Wagenknecht betont – ein weit verbreitetes Problem, das Politiker aller Parteien, die Wirtschaft und das Kulturleben betrifft. Dass die katholische Kirche hier nicht resistenter ist, sondern sogar noch die Avantgarde beim Wegschauen spielen möchte, ist traurig, bedenkt man, dass ein genauerer Blick auf die Probleme der heutigen Zeit die positiven Früchte der katholischen Morallehre empirisch bestätigen und damit all jene Lügen strafen würde, die das katholische Menschenbild als veraltet betrachten. Die massive Zunahme an psychischen Erkrankungen bei Kindern hat vielerlei Gründe, dazu gehört fraglos auch die Relativierung der Ehe, die zu vielen zerrütteten Familien führte, welche die Stabilität vermissen lassen, die Heranwachsende brauchen. Die fehlende Belastbarkeit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen kennt ebenfalls viele Ursachen, doch ist die Verneinung von Tugenden wie Selbstbeherrschung und Disziplin, dies auch in religiösen Fragen, ein wichtiger Faktor, der verhindert, starke Persönlichkeiten herauszubilden, die den Stürmen des Lebens trotzen können. Zu guter Letzt ist hier auch die Paradedisziplin der Lifestyle-Linken sowie der Lifestyle-Katholiken zu nennen: die Genderideologie. Dass junge Frauen und Männer immer mehr unter ihrem eigenen Körper leiden und dadurch sogar die Lust an jeglicher Geschlechtlichkeit verlieren, ist wohl für die Vertreter der Genderideologie und sexuellen Libertinage der härteste Schlag, den die Realität ihnen versetzen konnte. Der gesunde Menschenverstand wird aber einsehen, dass die Negierung der Natur und die Verwischung von biologischen Kategorien nicht die Akzeptanz des eigenen Leibes fördern, sondern ihn eher in Feindschaft zu sich selbst und jenem der Mitmenschen setzen.

Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Die Benennung dieser gesellschaftlichen Probleme ist kein Plädoyer für ein Zurück in die gute alte Zeit, in der die Welt vermeintlich noch heil war. Denn der Versuch, in den gleichen Fluss zweimal zu steigen, ist durch eine Verklärung der Vergangenheit motiviert und scheitert oft. Das Zweite Vatikanische Konzil erkannte richtig, dass die Frage nach Gott und einem gelingenden christlichen Leben in der Moderne neue Herausforderungen an den Klerus und die Laien stellt, denen man auf der Höhe der Zeit begegnen muss. Dabei muss man sich als Christ nicht vor der Realität verstecken, sondern diese im Lichte des Evangeliums annehmen. Wenn Frau Wagenknecht den Lifestyle-Linken einen Verrat an der sozialistischen Idee vorwirft, da diese Scheingefechte führen, ohne sich wirklich für die Menschen einzusetzen, so muss dieser Vorwurf noch in einem grösseren Ausmass vielen heutigen Kirchenvertretern gemacht werden. Sie verraten das Konzil und die Gläubigen.

Eine aktuelle Krise könnte dabei helfen, die enge Sichtweise zu öffnen und zu verändern. Der aktuelle Lehrermangel – übrigens hervorgerufen ganz ohne Zölibat und fehlende Frauenordination – böte Gelegenheit, Bischöfe wie Felix Gmür, Theologie-Professoren wie Daniel Bogner oder Staatskirchenrechtsfunktionäre wie Daniel Kosch mit realen Problemen der heutigen Zeit zu konfrontieren. Einige Monate an einer Primarschule oder Oberstufe zu unterrichten würden einen starken Kontrast bilden zu den Potemkinschen Pfarreien und Diskussionsrunden, die sonst das Anschauungsmaterial für die pastoralen Ideen unserer katholischen Elite bilden. Im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen, ob diese nun katholisch, reformiert, muslimisch oder konfessionslos sind, würde sich schnell zeigen, dass die katholische Morallehre, welche sich selbst als progressiv bezeichnende Theologen lieber heute als morgen entsorgen wollen, nicht das Leid vieler Adoleszenten verursacht. Vielmehr ist es im Gegenteil die Abkehr von dieser Lehre samt dem damit verbundenen Drang der Eltern und weiten Teilen der Gesellschaft, sich überall stets selbst zu verwirklichen – auch wenn diese eine Welt hinterlässt, die keinerlei Bindungen, keinerlei feste Normen und letztlich auch keinerlei wahre Nächstenliebe kennt. Für die Zukunft der Kirche in der Deutschschweiz wäre es sehr fruchtbar, wenn ein solches Eintauchen in die Wirklichkeit die Basis für den synodalen Prozess bilden würde, anstatt sich in die durch kirchliche Mitarbeiter und Funktionäre ausgefüllten Umfragebögen zu flüchten. Dies stellte ein wahres Aggiornamento dar, das zudem noch um einiges lehramtstreuer ausfallen würde als die jetzigen Diskussionen der Lifestyle-Katholiken.


Daniel Ric


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    Hansjörg 04.02.2023 um 15:11
    Im obigen Beitrag masst sich Herr Ric an, die politischen Aussagen von Sahra Wagenknecht auf allfällige Parallelen von Eliten der kath. Kirche umzumünzen. (Sie nennt sich übrigens Sahra)
    Frau Wagenknecht würde da wohl nicht zustimmen.
    Hat sie doch im Juni 2015, zusammen mit 150 weiteren Prominenten aus Kultur und Politik einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin, in dem die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften gegenüber der zweigeschlechtlichen Ehe gefordert wurde geschrieben. Zudem befürwortete Wagenknecht 2017 die Ehe für alle. Sahra Wagenknecht lebt in zweiter Ehe mit Oskar Lafontaine zusammen, was dem kath. Leitbild auch nicht entspricht.
    • user
      Daniel Ric 09.02.2023 um 08:38
      Sehr geehrter Hansjörg, zuerst einmal haben Sie recht, Frau Wagenknecht nennt sich Sahra. Der Rest Ihres Kommentars zielt an dem, was ich mit meinem Artikel bezweckte, vorbei. Mir ging es nicht darum zu behaupten, Frau Wagenknecht stehe hinter der katholischen Lehre. Es ging darum aufzuzeigen, dass die Kritik von Frau Wagenknecht an der politischen Elite sich auch auf die katholische Elite in der Schweiz übertragen lässt, da nicht die Probleme thematisiert werden, welche die Menschen betreffen, sondern nur Scheinprobleme.
      • user
        Hansjörg 09.02.2023 um 15:48
        Ja Herr Ric, da haben sie natürlich völlig Recht: Mich als der kath. Kirche angehöriger Mensch beschäftigen die folgenden Themen:
        - Keine Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Frauen
        - die, in der heutigen Zeit verfehlte Sexuallehre
        - die Missbrauchsfälle
        Welches nun die Scheinprobleme sind, ist mir nicht bekannt.
        • user
          Daniel Ric 13.02.2023 um 19:59
          Ausser bei den Missbrauchsfällen, die tatsächlich ein Problem darstellen, sehe ich bei den von Ihnen genannten Themen nur Scheinprobleme, welche die breite Gesellschaft nicht interessieren. Die sexuellen Missbräuche sind tatsächliche Probleme, die aber nicht nur in der katholischen Kirche vorkommen. Familien, Sportclubs und die Schulen sind genauso betroffen.
          Die anderen von Ihnen genannten Probleme erachte ich als nicht massgebend, da sie nur einen Bruchteil der Menschen tangieren. Ich kenne wenig selbstbewusste Frauen, die ein Problem damit haben, dass sie nicht zu Priesterinnen geweiht werden können. Es sind eher Frauen, die ohnehin schon ein Minderwertigkeitsgefühl haben, welche diesen Anspruch lautstark verkünden. Bei den Menschen, die sexuell anders leben, als es dem Ideal der Kirche entspricht, sieht es ähnlich aus.
  • user
    A. Walser 26.01.2023 um 07:11
    Guten Morgen Herr Ric

    Hervorragend zusammengefasst und dazwischen kann man lächeln...witzige Ausdrucksweise... sind Sie Lehrer? Danke, werde diesen Artikel einem führenden Politiker weiterleiten.

    Einen fröhlichen Wintertag und weiter so
    A. Walser
    • user
      Daniel Ric 27.01.2023 um 06:32
      Liebe Frau Walser, Sie haben mich ertappt. Ich bin zwar Volkswirt, arbeite aber seit 12 Jahren als Lehrer und habe dadurch Erfahrungen mit den Nöten der Jugendlichen sammeln können. Daher muss ich immer wieder lachen bzw. weinen über die Scheinprobleme, die von der katholischen Elite diskutiert werden. Mit den heutigen Nöten der Menschen haben diese herzlich wenig zu tun. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
  • user
    Stefan Fleischer 25.01.2023 um 17:28
    Genau!
    Hier liegt der Hund begraben!