Originalbild aus Pakistan (Aufnahme: privat)

Hintergrundbericht

Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion CSI ret­tet mus­li­mi­schen Jugend­li­chen – Pakis­tans Blas­phe­mie­ge­setze als töd­li­che Gefahr

Ech­tes Chris­ten­tum ist es, Men­schen­le­ben zu ret­ten – unab­hän­gig von der Reli­gion. In Pakis­tan konnte die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion «Chris­tian Soli­da­rity Inter­na­tio­nal» (CSI) jetzt einem jugend­li­chen Mus­lim das Leben ret­ten. Er war auf­grund der pakis­ta­ni­schen Blas­phe­mie­ge­setze ange­klagt. Diese Gesetze bedeu­ten im strikt mus­li­mi­schen Pakis­tan akute Lebens­ge­fahr für alle gesell­schaft­li­chen Min­der­hei­ten – staat­li­cher­seits sank­tio­niert. Tau­sen­den droht des­we­gen aktu­ell die Hinrichtung.

Haider Ali ist heute 16 Jahre alt. Trotz seines jugendlichen Alters hat er bereits drei Jahre und zwei Monate Haft hinter sich – und nicht etwa in einem Jugendgefängnis, sondern in einer Zelle mit sechs erwachsenen Männern. Er war wegen angeblicher Blasphemie verhaftet worden. Der einzige Vorwurf, der gegen Haider (der selbst Muslim ist) erhoben wurde, klingt in unseren Ohren absonderlich und unglaubwürdig – er soll aus einem Koran eine Seite herausgerissen haben. Die Menschenrechtsorganisation «Christian Solidarity International» (CSI) nahm sich des Falles an. Ihr Präsident, John Eibner, kritisiert: «Böswillige Akteure können falsche Blasphemie-Anschuldigungen, die nur schwer zu widerlegen sind, leicht als Waffe einsetzen. Religiöse Minderheiten und Menschen mit niedrigem sozialem Status sind dann besonders gefährdet, und das betrifft durchaus auch viele Muslime.»

Haider Ali hat all dies am eigenen Leib erfahren: «Jeder Tag im Gefängnis war schrecklich», sagt er gegenüber CSI. «Ich hatte ständig Angst, dass mich jemand umbringen würde.» CSI-Präsident John Eibner weiss, dass sein Schicksal kein Einzelfall ist: «Haider ist einer von Tausenden Christen und Muslimen, die aufgrund des pakistanischen Blasphemiegesetzes verfolgt werden. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, hier zu helfen, und zwar unabhängig vom religiösen Bekenntnis der Betroffenen.»

Blasphemiegesetze schaffen ein Klima des religiösen Terrors
Mehr als 240 Millionen Menschen wohnen in Pakistan, fast 97 Prozent von ihnen sind Muslime. Die in der gesamten islamischen Welt bekannte Verfolgung von tatsächlicher oder angeblicher «Blasphemie» – also der subjektiv empfundenen Beleidigung des Korans, des islamischen Propheten Mohammeds oder Allahs – wird in Pakistan am radikalsten betrieben, und zwar mit Abschnitt 295 des pakistanischen Strafgesetzbuchs. Blasphemie ist demnach ein Kapitalverbrechen, und darauf steht Gefängnis oder sogar die Todesstrafe.

Die Blasphemiegesetze haben in Pakistan insgesamt ein Klima der Straflosigkeit für religiösen Terror geschaffen. Das zeigt exemplarisch der Lynchmord an einem Manager im pakistanischen Sialkot im vorletzten Jahr, wobei im Nachhinein bewiesen werden konnte, dass alle Vorwürfe frei erfunden waren. Der Leiter der Organisation «Human Rights Focus Pakistan», Naveed Walker, beschrieb exemplarisch, was in Pakistan in einem solchen Fall passieren kann: «Die Sicherheitskräfte sind nicht eingeschritten. Im ersten Bericht haben sie geschrieben, es sei ihnen unmöglich gewesen, 800 bis 900 Menschen zu stoppen, aber in Wirklichkeit haben sie mit 20 Minuten Verspätung gehandelt.» Für den verfolgten Mann kam jede Hilfe zu spät.

Die «Internationale Gesellschaft für Menschenrechte» (IGFM) analysiert: «Die Blasphemiegesetze sind vage ausgelegt, sodass auch friedliche Meinungsäusserungen strafbar gemacht werden können. Es wird versucht, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Anwälte durch konstante Drohungen einzuschüchtern.» Bei «Amnesty International» (AI) kennt man konkrete Fälle: «Im Januar 2022 wurde eine Frau wegen angeblich blasphemischer Nachrichten, die sie über WhatsApp verschickt hatte, zum Tode verurteilt. Im Februar lynchte ein Mob im Bezirk Khanewal einen Mann, dem vorgeworfen wurde, er habe Seiten aus dem Koran verbrannt. Im Oktober wurde in Ghotki ein junger Mann mit Behinderungen, der jahrelang in einem lokalen Schrein gelebt hatte, von einem Mann, der ihn der Blasphemie bezichtigte, in einem Teich ertränkt.»
Gerade im letztgenannten Fall liegt die traurige Vermutung nahe, dass ein Mensch, der wegen seiner körperlichen Einschränkungen lästig wurde, unter falschem Vorwand in einer unter islamischen Vorzeichen radikalisierten Gesellschaft schlichtweg ermordet wurde.

Niemand ist sicher
Seit dem Inkrafttreten dieses völlig willkürlich anwendbaren Gesetzes unter dem früheren Militärherrscher Zia ul-Haq vor mehr als 30 Jahren wurden fast 2 000 Menschen der Blasphemie beschuldigt. Dutzende Menschen verbüssen wegen entsprechender Anschuldigungen nach Schätzungen aus den USA lebenslange Gefängnisstrafen oder sind zum Tode verurteilt. Vollstreckt wurde die Todesstrafe zwar noch nie, aber es wird damit ein fatales gesellschaftliches Signal der totalen Kontrolle muslimischer Instanzen gesetzt: «78 Menschen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt waren, wurden im Gefängnis durch Mithäftlinge oder später von ihren eigenen Nachbarn ermordet», erklärt John Eibner. Die Nachrichtenagentur «Agenzia Fides» hat sogar 81 Morde in diesem Zusammenhang gezählt. Auf ihrer Seite ist zudem die Bestätigung zu finden, dass CSI aktuell vier Christen und sechs Muslime, die in Pakistan wegen Blasphemie angeklagt sind, unterstützt.

«Beim Blasphemiegesetz ist der Willkür Tür und Tor geöffnet», analysiert CSI-Präsident John Eibner. «Falsche Anklagen werden benutzt, um unerwünschte Personen aus dem Weg zu räumen. Das ist innergesellschaftlicher Terror, der sich gegen Angehörige aller Religionen richten kann, und wir versuchen, allen gleichermassen zu helfen.» Diese breit gestreute Hilfe ist dringend nötig, weil eine anwaltliche Verteidigung gegen dieses Gesetz, das wie eine willkürlich eingesetzte gesellschaftliche Keule wirkt, kaum möglich ist. Die Opfer sind entweder mittellos oder werden beraubt – eine anwaltliche Verteidigung scheitert meist schon deswegen. Ständig drohen zudem Lynchmorde, und es ist egal, wie fadenscheinig und durchsichtig die falschen Beschuldigungen sind.

Das international bekannteste Opfer der Blasphemiegesetze ist Asia Bibi. Sie wurde 2010 zum Tod durch Erhängen verurteilt, weil sie sich abfällig über den Koran geäussert haben soll. Es gab lediglich mündliche Anschuldigungen, keinerlei gerichtsfeste Beweise, der starke Verdacht reiner Willkür lag über dem gesamten Prozess. Asia Bibi sie bestritt alle Anklagepunkte vehement. Aber auch sie war mittellos, und trotz internationaler Hilfe dauerte es dementsprechend fast neun lange Jahre, die sie im Gefängnis verbringen musste, bis im Januar 2019 das Urteil durch das höchste Gericht aufgehoben wurde. Dieser späte Freispruch führte in Pakistan zu tagelangen gewaltsamen Ausschreitungen ganz «normaler» muslimischer Bürger. Im Mai 2019 konnte Asia Bibi nach Kanada ausreisen. 2021 bezeichnete sie das Blasphemiegesetz als «Schwert in den Händen der muslimischen Bevölkerungsmehrheit».

Die ganze Familie gerät ins Visier
Im aktuellen Fall Haider Ali deuten die Umstände der Verhaftung ebenfalls auf Willkür. Bekannt ist nur, dass ein anderer Muslim, Faisal Azi, den gerade 13-Jährigen beschuldigt hatte, Seiten aus einer Koranausgabe herausgerissen zu haben. Nach Haiders Verhaftung zeigte eine Aussage Faisals dann, wie perfide das Blasphemiegesetz in Pakistan wirkt. Faisal sagte nach Angaben von CSI, er habe Haider mit der Anschuldigung «einen Gefallen getan», weil er ihn damit vor einem Lynchmord durch radikalisierte Glaubensbrüder geschützt habe – denn es geht hier, es sei nochmals betont, um einen Konflikt unter Muslimen. Faisal wörtlich: «Die Leute wollten Haider töten, aber ich habe ihn gerettet, indem ich ihn der Polizei übergab.»

Anjum, ein lokaler CSI-Partner, stützte die Familie des inhaftierten Jugendlichen sowohl rechtlich als auch finanziell. Es war sogar nötig, dass die Familie an einen anderen Ort zog, denn in Pakistan ist der Hass speziell über das «Blasphemiegesetz» tief in die Gesellschaft eingedrungen und hat zu totaler Willkür und dem Verlust eines ausgewogenen Rechtsverständnisses in breiten Bevölkerungsteilen geführt. CSI-Präsident John Eibner: «Wer auch immer der Blasphemie beschuldigt wird – berechtigt oder unberechtigt – ist fortan de facto vogelfrei. Seine gesamte Familie gerät in grösste Gefahr, und es kann vorkommen, dass das Haus von Nachbarn in Brand gesteckt wird oder sogar Familienmitglieder ermordet werden.»

Am 23. November 2022 hatte John Eibner den damaligen pakistanischen Justizminister Sardar Ayaz Sadiq brieflich aufgefordert, die Blasphemie-Anklagen gegen zehn pakistanische Bürger, darunter Haider Ali, fallen zu lassen. Unter anderem hatte er kritisiert, dass «Anklagen wegen Blasphemie in Pakistan in der Regel von Polizeibeamten und anderen Anklägern gegen unschuldige Menschen erhoben werden, um Rache zu üben oder andere Formen unwürdiger persönlicher Befriedigung zu erlangen». Und auch wenn die mörderische Problematik der Blasphemiegesetze in Pakistan noch lange nicht behoben ist – immerhin einem jungen Muslim konnte CSI helfen: Haider Ali ist frei.


Sebastian Sigler

Dr. Sebastian Sigler ist freier Journalist.


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