Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner, 1700, Rijksmuseum Amsterdam. CC0 via Wikimedia Commons

Kommentar

Moderne Pha­ri­säer?

Nichts scheint auf den ersten Blick verdrehter zu sein als moderne, aufgeschlossene, synodale, kurz: mit der bestehenden Kirche unzufriedene Katholiken als Pharisäer zu bezeichnen. Denn die Pharisäer, wie wir sie aus der Bibel kennen, zeichnen sich durch buchstabengetreuen Gesetzesgehorsam aus, wogegen für die genannten modernen usw. Katholiken Gesetze an sich ein Graus sind, allenfalls brauchbar als unverbindliche Ratschläge, aber ja nicht als etwas Verpflichtendes. Verpflichtend für einen Christen ist ihrer Meinung nach nur die Liebe, und als Liebe gilt ihnen alles, was für jeden Einzelnen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade passt.

Aber wie sagt ein französisches Sprichwort so treffend: «Les extrêmes se touchent», frei übersetzt: Was weit auseinander zu liegen scheint, liegt oft nahe beieinander. Zwischen unseren modernen Mitbrüdern und -schwestern und den biblischen Pharisäern – von Pharisäerinnen wissen die Evangelien nichts – gibt es durchaus Berührungspunkte, von denen einer von kapitaler Bedeutung ist.

Pharisäer und Modernisten glauben beide von sich, eine Erlösung nicht nötig zu haben; die einen, weil sie überzeugt sind, sämtliche 613 Ge- und Verbote der Tora jederzeit halten zu können, die andern, weil es ihrer Ansicht gemäss keine (end)gültigen Ge- und Verbote gibt. Letztlich behaupten also beide, alles im Leben richtig zu machen, «Gerechte» und nicht «Sünder» zu sein.

Doch genau darin liegt der Haken: Jesus ist nämlich gekommen, die Sünder zu berufen, nicht die Gerechten. Was auf den ersten Blick wie eine Diskriminierung der «Gerechten» aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinschauen als Absage an die Selbstgerechten. Denn vor Gott ist niemand «gerecht», jeder Mensch ist ein Sünder und kann nur durch die Erlösungstat Jesu Christi gerettet werden. Weder kann man auf (vermeintliche) Verdienste pochen, noch die Gebote Gottes nach dem Motto «Was die meisten tun, kann nicht falsch sein» ausser Kraft setzen.

Das Gleichnis Jesu vom Pharisäer und vom Zöllner, die beide in den Tempel gehen, um zu beten, illustriert das sehr schön: Der Pharisäer zählt Gott alles auf, was er Gutes tut, und erwartet dafür seinen Lohn. Der Zöllner dagegen ist sich seiner Fehler bewusst und bittet Gott um Erbarmen.

Heute würde die Geschichte vielleicht so lauten:

Eine Synodalratspräsidentin und eine Grossmutter betraten einst gleichzeitig die Kirche, die Synodalratspräsidentin, um für die nächste Sitzung der kantonalkirchlichen Baukommission die Architektur des Gotteshauses zu studieren, die Grossmutter, um den Rosenkranz für ihre Enkel zu beten. Die Kirchenpolitikerin rümpfte beim Anblick der alten Frau leicht die Nase und dachte: «Wie gut, dass ich nicht so bin wie diese Frömmlerin! Ich wehre mich für die Rechte der Frau in der Kirche, ich bekämpfe klerikalen Machtmissbrauch, ich diskutiere mit Bischöfen auf Augenhöhe und setze mich für eine zeitgemässe Kirche ein, die den Menschen keine bestimmten Verhaltensweisen aufzwingt.» Die Grossmutter aber fügte jedem Gesätzchen die Bitte hinzu: «Mein Jesus, Barmherzigkeit!»
 

Gastkommentare spiegeln die Auffassungen ihrer Autorinnen und Autoren wider.


Martin Meier-Schnüriger


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    Theresa 25.03.2024 um 11:47
    Die Gefahr von Selbstherrlichkeit ist gross. So schafft es leider auch der Autor selbstgerecht über "eine Synodalratspräsidentin" zu urteilen. Es liegt nicht am Autor (oder sonst einer Person) darüber zu urteilen, wann, wo und wie «eine Synodalratspräsidentin» betet. Aber natürlich steht es auch der Synodalratspräsidentin nicht zu über das Gebet der Grossmutter zu urteilen!
    Ich finde es absolut zu kurz gegriffen, "moderne, aufgeschlossene, synodale, kurz: mit der bestehenden Kirche unzufriedene Katholiken" Phäriser zu nennen. Unsere Kirche kann und soll modern, aufgeschlossen und synodal sein - auf ihre Art und Weise. Ist man unzufrieden mit der Kirche, so drückt das nur aus, dass man trotz aller Liebe zur Kirche noch Handlungsbedarf sieht. Man darf nicht vergessen: unsere Kirche muss sich bewegen, denn Stillstand bedeutet immer Tod. So liegt es an uns allen, dass sich unsere Kirche in die richtige Richtung bewegt. Selbstgerecht über Personen zu urteilen, die andere Meinungen vertreten - das hilft niemandem! Wir müssen das für die Kirche tun, was Gott will. Was das ist, weiss keiner von uns mit Sicherheit. Ein guter Katholik stellt Gott in das Zentrum, wie er das tut bleibt ihm überlassen.
    Bei aller Liebe zur Kirche und ihren Strukturen darf die Nächstenliebe nicht vergessen gehen!
    • user
      Meier Pirmin 25.03.2024 um 18:03
      Was das wohl heisst, "Gott ins Zentrum zu stellen", ist nun mal die Berufung zur Heiligkeit. Ist das darunter zu schaffen? Wenn es um die Sache selbst ging, den Missbrauch des Heiligen im Tempel, kannte übrigens Jesus Christus keine "Nächstenliebe", zumindest keinen Pardon. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Jesus-Roman "Salvatrice" von Arnold Stadler, den Theologen und grossen Autor, der diese Tage in aller Stille seinen 70. Geburtstag begeht, Verfasser einer epochalen Psalmenübertragung, "Die Menschen lügen. Alle" in einer Intensität, die an die stärksten Bibelvermittlungsleistungen Luthers und Zwinglis erinnert, deren Originaltexte heute aber nicht mehr vermittelt werden, vielleicht auch nicht mehr vermittelbar sind. Anregung zu diesem Roman war übrigens der Film über das Matthäusevangelium von Pasolini. Das Matthäus-Evangelium mal vollständig durchzupredigen, wie es nach dem Vorbild Zwinglis einst Kurt Marti in der Berner Nydegg-Kirche geschafft hat, wäre ein Versuch, die Gläubigen wenn möglich "synodenreif" zu machen. Nicht zu unterschätzen die Paulus-Briefe und natürlich die Konzils-Texte. Verwaltungserfahrung genügt gewiss nicht. Hingegen müsste wohl auch Kenntnis der Kirchenmusik und des Kirchengesangs vorausgesetzt werden.

      Stadler stammt übrigens aus Messkirch, dem Heimatort des Kapuzinerpredigers Abraham a Santa Clara. Das Minimum wäre, dass die Mitglieder der Synode, wie ich andeutete, zumindest mal "Pharisäer" würden, also Spitzenkenner nicht nur des Katechismus, der Heiligen Messe und vor allem doch auch des Originaltextes der Bibel.

      Ein guter Vorschlag wäre anstelle kirchlicher Sozialarbeit, eine Aufgabe, für die der Staat heute Milliarden investiert, Gymnasien zu gründen mit Griechisch, Latein, Hebräisch und weiteren Grundlagen religiöser Bildung. Ein vernachlässigtes Spezialthema, wohl noch bedeutender als der Klima-Wandel, wäre eine Ernährungsphilosophie und Gesundheits-Diätetik, welche die Erneuerung des Fastens und der Fastenzeit zum Ziele hätte. Es gibt keine Hoch-Religion ohne Diätetik. Hier könnte man u.a. von den Juden und Muslimen doch noch einiges lernen.
      • user
        Stefan Fleischer 25.03.2024 um 20:34
        "Gott ins Zentrum zu stellen" ist für mich nicht zuerst ein bestimmtes Tun und/oder Reden. Es ist eine innere Lebenshaltung, die sich bemüht, allezeit und in allen Situationen des Lebens die Beziehung zu Gott zu pflegen. Es ist ein Leben nach dem Motto: «Alles meinem Gott zu Ehren!» Dass das nicht leicht ist, dass das viel und bewusste Übung verlangt, das ist auch meine Erfahrung. Ja, dass wir das auch nicht aus eigener Kraft schaffen, dessen müssen wir uns dabei immer bewusst bleiben. Es ist ein wunderbares und unergründliches Zusammenspiel von Gott und Mensch, von Gnade und Bemühen. Es ist ein Weg, der um so befriedigender verläuft, je weiter wir auf diesem Weg voranschreiten.
        • user
          Meier Pirmin 26.03.2024 um 09:02
          "Alles meinem Gott zu Ehren" war die Losung einerseits der Jesuiten , andererseits von Calvin, ist aber immerhin auch in unserem Dreifaltigkeitsgebet "Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste" enthalten. Natürlich sind wir uns aus der Kirchengeschichte bewusst, dass diese Losung sehr stark mit der pharisäischen Überheblichkeit verbunden sein konnte, was insbesondere in der Lebensgeschichte Calvins herausgearbeitet wurde. Dass es, wenn es um die Ehre Gottes ging, buchstäblich ähnlich wie Ignatius von Loyola keinen Spass verstand, ist mit ein Grund, bei heutigen auch innerkirchlichen Debatten die Nerven nicht zu verlieren. Immerhin wurde die Hl. Dreifaltigkeit schon mal, was man zwar nicht nur von der gemütlichen Seite her sehen sollte, als "Geselligkeit Gottes" (Kurt Marti) interpretiert. Marti war indes als Theologe und Barth-Schüler überzeugender als wenn er Theologie auf die Tagespolitik zu übertragen versuchte. Hierbei kann man jederzeit "einen Schuh voll herausziehen", wie es Jeremias Gotthelf in seiner bäurischen Anschaulichkeit formulierte.
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    Stefan Fleischer 24.03.2024 um 21:06
    Ja, die Gefahr ist gross, dass wir jenen gegenüber selbstgerecht auftreten, welche wir - gleichgültig ob zu recht oder nicht – als selbstgerecht einschätzen. Vergessen wir nie: Mit dem Mass, mit dem wir richtet, werdet auch wir gerichtet werden.»
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    Meier Pirmin 24.03.2024 um 18:17
    Ein einstiger Bekannter von mir, Pfarrer Dr. theol und Dr. hc. Hinrich Stoevesandt, Bruderholzallee 26, Basel, der einstigen Wohnstätte von Karl Barth, ein hervorragender Kenner des Theologen, hielt um die Zeit des 100. Geburtstages von Karl Barth (1986) eine imponierende Predigt als Beispiel für dialektische Theologie: Eine Verteidigungsrede für die Pharisäer.! Erstens gelte es nun mal, diese Richtung altjüdischer Gläubigkeit, im Unterschied zu den Sadduzäern, richtig und gerecht einzuschätzen; andererseits ginge die Kritik des Evangeliums keineswegs der Gesetzestreue der Pharisäer an den Kragen, sondern dieselbe beruhe auf der Forderung der "Übererfüllung des Gesetzes", also einer Einstellung, die in keiner Weise mit "Liberalismus" oder "laissez-faire" zu verwechseln sei. Stoevesandt hob vielmehr hervor, dass die meisten oder zumindest viele, die sich für gerechte Gläubige hielten, bei weitem auch nur das Niveau eines Pharisäers erreichen würden. Um den Pharisäer in sich zu überwinden, gelte es, zuerst einmal dessen Niveau zu erreichen. Ohnehin meine die Kritik Jesu an den Pharisäern nicht den historischen Pharisäismus, sondern einen verbreiteten geistlichen bzw. hypermoralistischen Hochmut, den man in der Tat bei allen sog. Weltanschauungen, Ideologien und Religionen antrifft. Also eher die Kritik an einer überheblichen selbstgerechten Haltung als an religiösen Inhalten, die im Fall der Pharisäer durchaus Respekt verdienen. Dialektische Theologe nach Kierkegaard und Barth bedeutet zumal, selbst bei einer gerechtfertigten Überzeugung sich daran erinnern, dass wir vor Gott bzw. dem Willen Gottes vielfach oder so gut wie immer unrecht haben, wenn wir glauben, dem Andersdenkenden gegenüber nicht einfach gerecht, sondern "gerächt" zu sein, ein Gedanke, der auch bei Nietzsches Religionskritik anzutreffen ist. Eines aber ist sicher: der Pharisäer ist der Wahrheit und Gerechtigkeit immer noch um Welten näher als derjenige, der sich um das Gesetz Gottes foutiert. Pfarrer Stoevesandt ist vor ungefähr 12 Jahren verstorben. Er liess mich mal auf den einstigen Polstersessel des Theologen Karl Barth Platz nehmen, mir eine Zigarre von dessen Lieblingsmarke anbietend, vgl. das Thomas-Mann Zauberberghotel in Davos, wo tatsächlich trotz Rauchverbot in einem bestimmten Raum die Zauberberg-Zigarrenmarke gepafft werden darf. Dies war/ist mit einer General-Absolution für Raucher nicht zu verwechseln. Erinnert lediglich an den Grenznutzen von Rauchverboten. Vgl. auch die Übereifrigen, die bei Kommunion in beiden Gestalten vor Rückfall in den Alkoholismus warnen, was bei dieser Gelegenheit schon vorgekommen sei!
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    Stefan Fleischer 24.03.2024 um 17:54
    Ja, die Selbstgerechtigkeit. Ich selbst habe lange gebraucht – bis ins hohe Alter – um mir wirklich bewusst zu werden, dass auch ich immer und immer wieder dieser Versuchung erliege. Es ist doch so schön, wenn man mit sich selbst zufrieden sein kann, zufrieden ist. Es befriedigt doch jeden, wenn er sich (und sei es auch nur eine Stufe) besser einordnen kann als dieser oder jener Andere.
    Wenn man aber ehrlich ist, so merkt man immer wieder, dass auch solche Gefühle letztlich nicht wirklich befriedigen, dass man es nie fertigbringen wird, wirklich so gut zu sein, wie man eigentlich sein möchte. Dabei wäre es doch so einfach. Man müsste nur nicht immer sich selbst ins Zentrum stellen. Man müsste nur sich nicht immer fragen, ob man mit sich zufrieden sein kann, sondern ob Gott mit uns zufrieden ist. Die daraus erwachsende Dankbarkeit für Gottes Hilfe würde mehr befriedigen als jedes Lob von Anderen und jedes Selbstlob.