Nichts scheint auf den ersten Blick verdrehter zu sein als moderne, aufgeschlossene, synodale, kurz: mit der bestehenden Kirche unzufriedene Katholiken als Pharisäer zu bezeichnen. Denn die Pharisäer, wie wir sie aus der Bibel kennen, zeichnen sich durch buchstabengetreuen Gesetzesgehorsam aus, wogegen für die genannten modernen usw. Katholiken Gesetze an sich ein Graus sind, allenfalls brauchbar als unverbindliche Ratschläge, aber ja nicht als etwas Verpflichtendes. Verpflichtend für einen Christen ist ihrer Meinung nach nur die Liebe, und als Liebe gilt ihnen alles, was für jeden Einzelnen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade passt.
Aber wie sagt ein französisches Sprichwort so treffend: «Les extrêmes se touchent», frei übersetzt: Was weit auseinander zu liegen scheint, liegt oft nahe beieinander. Zwischen unseren modernen Mitbrüdern und -schwestern und den biblischen Pharisäern – von Pharisäerinnen wissen die Evangelien nichts – gibt es durchaus Berührungspunkte, von denen einer von kapitaler Bedeutung ist.
Pharisäer und Modernisten glauben beide von sich, eine Erlösung nicht nötig zu haben; die einen, weil sie überzeugt sind, sämtliche 613 Ge- und Verbote der Tora jederzeit halten zu können, die andern, weil es ihrer Ansicht gemäss keine (end)gültigen Ge- und Verbote gibt. Letztlich behaupten also beide, alles im Leben richtig zu machen, «Gerechte» und nicht «Sünder» zu sein.
Doch genau darin liegt der Haken: Jesus ist nämlich gekommen, die Sünder zu berufen, nicht die Gerechten. Was auf den ersten Blick wie eine Diskriminierung der «Gerechten» aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinschauen als Absage an die Selbstgerechten. Denn vor Gott ist niemand «gerecht», jeder Mensch ist ein Sünder und kann nur durch die Erlösungstat Jesu Christi gerettet werden. Weder kann man auf (vermeintliche) Verdienste pochen, noch die Gebote Gottes nach dem Motto «Was die meisten tun, kann nicht falsch sein» ausser Kraft setzen.
Das Gleichnis Jesu vom Pharisäer und vom Zöllner, die beide in den Tempel gehen, um zu beten, illustriert das sehr schön: Der Pharisäer zählt Gott alles auf, was er Gutes tut, und erwartet dafür seinen Lohn. Der Zöllner dagegen ist sich seiner Fehler bewusst und bittet Gott um Erbarmen.
Heute würde die Geschichte vielleicht so lauten:
Eine Synodalratspräsidentin und eine Grossmutter betraten einst gleichzeitig die Kirche, die Synodalratspräsidentin, um für die nächste Sitzung der kantonalkirchlichen Baukommission die Architektur des Gotteshauses zu studieren, die Grossmutter, um den Rosenkranz für ihre Enkel zu beten. Die Kirchenpolitikerin rümpfte beim Anblick der alten Frau leicht die Nase und dachte: «Wie gut, dass ich nicht so bin wie diese Frömmlerin! Ich wehre mich für die Rechte der Frau in der Kirche, ich bekämpfe klerikalen Machtmissbrauch, ich diskutiere mit Bischöfen auf Augenhöhe und setze mich für eine zeitgemässe Kirche ein, die den Menschen keine bestimmten Verhaltensweisen aufzwingt.» Die Grossmutter aber fügte jedem Gesätzchen die Bitte hinzu: «Mein Jesus, Barmherzigkeit!»
Gastkommentare spiegeln die Auffassungen ihrer Autorinnen und Autoren wider.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Ich finde es absolut zu kurz gegriffen, "moderne, aufgeschlossene, synodale, kurz: mit der bestehenden Kirche unzufriedene Katholiken" Phäriser zu nennen. Unsere Kirche kann und soll modern, aufgeschlossen und synodal sein - auf ihre Art und Weise. Ist man unzufrieden mit der Kirche, so drückt das nur aus, dass man trotz aller Liebe zur Kirche noch Handlungsbedarf sieht. Man darf nicht vergessen: unsere Kirche muss sich bewegen, denn Stillstand bedeutet immer Tod. So liegt es an uns allen, dass sich unsere Kirche in die richtige Richtung bewegt. Selbstgerecht über Personen zu urteilen, die andere Meinungen vertreten - das hilft niemandem! Wir müssen das für die Kirche tun, was Gott will. Was das ist, weiss keiner von uns mit Sicherheit. Ein guter Katholik stellt Gott in das Zentrum, wie er das tut bleibt ihm überlassen.
Bei aller Liebe zur Kirche und ihren Strukturen darf die Nächstenliebe nicht vergessen gehen!
Stadler stammt übrigens aus Messkirch, dem Heimatort des Kapuzinerpredigers Abraham a Santa Clara. Das Minimum wäre, dass die Mitglieder der Synode, wie ich andeutete, zumindest mal "Pharisäer" würden, also Spitzenkenner nicht nur des Katechismus, der Heiligen Messe und vor allem doch auch des Originaltextes der Bibel.
Ein guter Vorschlag wäre anstelle kirchlicher Sozialarbeit, eine Aufgabe, für die der Staat heute Milliarden investiert, Gymnasien zu gründen mit Griechisch, Latein, Hebräisch und weiteren Grundlagen religiöser Bildung. Ein vernachlässigtes Spezialthema, wohl noch bedeutender als der Klima-Wandel, wäre eine Ernährungsphilosophie und Gesundheits-Diätetik, welche die Erneuerung des Fastens und der Fastenzeit zum Ziele hätte. Es gibt keine Hoch-Religion ohne Diätetik. Hier könnte man u.a. von den Juden und Muslimen doch noch einiges lernen.
Wenn man aber ehrlich ist, so merkt man immer wieder, dass auch solche Gefühle letztlich nicht wirklich befriedigen, dass man es nie fertigbringen wird, wirklich so gut zu sein, wie man eigentlich sein möchte. Dabei wäre es doch so einfach. Man müsste nur nicht immer sich selbst ins Zentrum stellen. Man müsste nur sich nicht immer fragen, ob man mit sich zufrieden sein kann, sondern ob Gott mit uns zufrieden ist. Die daraus erwachsende Dankbarkeit für Gottes Hilfe würde mehr befriedigen als jedes Lob von Anderen und jedes Selbstlob.