Bischof Alain de Raemy. (Bild: Bistum Lugano)

Interview

«Nichts ist schö­ner im Leben, als sich ver­söh­nen zu können»

Vor zehn Jah­ren wurde Alain de Raemy in Fri­bourg zum Bischof geweiht. Seit knapp einem Jahr ist er nun Apos­to­li­scher Admi­nis­tra­tor im Bis­tum Lugano. Im Inter­view mit «swiss​-cath​.ch» spricht er über seine Auf­gabe als (Jugend-)Bischof sowie über die Beson­der­hei­ten des Bis­tums Lugano.

Bischof de Raemy, am 11. Januar 2014, haben Sie in der Kathedrale von Fribourg die Bischofsweihe empfangen. Hat sich Ihr Verständnis dieses Amtes in den vergangenen zehn Jahren verändert? Wenn ja, in welcher Beziehung?
Verändert hat sich mein Verständnis dieses Amtes eigentlich nicht, aber jetzt, seit mehr als einem Jahr, erlebe ich es, wenn ich es so sagen darf, in vollen Zügen. Es heisst ja bei der Bischofsweihe, wie sehr du dich als guter Hirt dem Volk Gottes, das dir anvertraut wird, widmen sollst. Als diözesaner Hauptverantwortlicher des Bistums Lugano ist es wirklich so: Ich spüre sozusagen noch tiefer diese einzigartige Verantwortung vor Gott, aber auch die dazu gehörende, irgendwie auf mich konzentrierte Erwartung der Menschen, sehr stark. Es ist eine sehr grosse Herausforderung, die mich aber noch mehr in die Arme Christi führt …

Ihr Wahlspruch lautet: «Apud Dominum misericordia» (Beim Herrn ist die Barmherzigkeit). Was bedeutet er für Ihr tägliches Leben?
Ich hatte diesen Wahlspruch aus dem Psalm 130 schon bei meiner Priesterweihe 1986 gewählt. Aber in einer längeren Fassung, die aus verschiedenen zusammengesetzten Versen bestand: «Ja, beim Herrn ist Vergebung, bei ihm ist Erlösung in Fülle.» Bei der Bischofsweihe wurde mir signalisiert, dass dieses Zitat zu lange sei! So ist es zum jetzigen «Beim Herrn die Barmherzigkeit» gekommen. Ja, ich glaube, dass es nichts Wichtigeres für einen Menschen gibt, als die Liebe voll und ganz, also ausnahmslos erleben zu dürfen. Nichts ist schöner im Leben, als sich versöhnen zu können. Da ist so befreiend! Ich habe einen afrikanischen Priester kennengelernt, der in einem ethnischen Bürgerkrieg sich vor Feinden verstecken musste. Als sie ihn fast entdeckt hatten, als er ihre Schritte immer näherkommen hörte, im zitternden Bangen um sein Überleben, überraschte er sich selbst, ganz spontan so zu beten: «Mein Gott, dass ich nicht sterbe, ohne um Deine Vergebung für sie laut bitten zu können.» Es ist nicht so weit gekommen. So weit möchte ich aber immer sein.

Eine Ihrer Funktionen innerhalb der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) ist jene des Jugendbischofs. Wie erleben Sie die jungen Menschen in Bezug auf den Glauben?
Heute haben wir einen Vorteil verglichen mit den Sechzigerjahren. Im damaligen Zeitgeist waren viele, die katholisch erzogen wurden, der Kirche sehr kritisch, wenn nicht feindlich gesinnt. Heute wissen auch getaufte Jugendliche fast nichts mehr vom Glauben. Dadurch sind sie aber viel neutraler und oft neugieriger geworden. Das ist eine Chance für die Evangelisierung. Denn wir sind, trotz einem stark mediatisierten Skandal, seltsamer und interessanter geworden. Etwa so wie damals die Spiritualität des Fernen Ostens, die nicht wenige nach Asien reisen liess! So interessieren sich heute allmählich mehr Jugendliche für den christlichen Glauben.

Erleben Sie Unterschiede zwischen den Jugendlichen in der Romandie, der Deutschschweiz und jetzt im Tessin?
Die Jugend allgemein gibt es ja an und für sich nicht. Es gibt ganz verschiedene Milieus, auch unter den Jugendlichen. Man kann aber sagen, dass im Tessin die Jugendlichen von der Kirche in der Gesellschaft mehr erfahren als sonst in der Schweiz. Grosse Jugendverbände gibt es hier nicht. Aber als Kind machen noch viele Jugendliche, wie auch immer, die Erfahrung einer katholischen Seelsorge vor Ort (Religionsunterricht, katholische Primarschule oder katholisches Kollegium, «Oratorio», Pfadfinder usw.). Aus kirchlicher Sicht gilt es, diese Chance zu packen!

Das Bistum Lugano ist ein kleineres Bistum. Inwiefern sehen Sie darin einen Vorteil, wo einen Nachteil?
Der grosse Vorteil ist, dass der Bischof fast überall dabei sein kann, auch in wichtigen gesellschaftlichen Gelegenheiten, die nichts mit Religion zu tun haben. Dafür besteht aber auch manchmal die Gefahr, dass man alle zu kennen meint und sich erlaubt, schlecht über andere zu reden.

Im Bistum Lugano gibt es keine sogenannten «Seelsorger» (Laientheologen), dafür viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ist dies angesichts des aktuellen Seelsorgermangels ein Zukunftsmodell auch für die Deutschschweiz?
Das Ehrenamtliche hat sicher überall Zukunft. Es ist an kein Geld gebunden. Es hat weniger mit Politik und Kirchenpolitik zu tun. Anderseits ist es aber auch sehr wert- und gnadenvoll, wenn gut ausgebildete und überzeugte Katholiken vollamtlich zur Verfügung stehen können.

Das Interview wurde schriftlich geführt.
 

Alain de Raemy wuchs zunächst in Barcelona auf. Nach dem Abschluss der Matura an der Stiftsschule Engelberg studierte er Philosophie und Theologie an der Universität Fribourg. Nach seiner Priesterweihe 1986 arbeitete er als Priester in der Diözese Lausanne, Genf und Freiburg. Von 2006 bis 2013 war er Kaplan der Päpstlichen Schweizergarde in Rom. Am 1. Dezember 2013 ernannte ihn Papst Franziskus zum Titularbischof von Turris in Mauretania und berief ihn zum Weihbischof des Bistums Lausanne-Genf-Freiburg. Die Bischofsweihe erfolgt am 11. Januar 2014 in der Kathedrale von Freiburg. Seit dem 10. Oktober 2022 ist Bischof Alain de Raemy Apostolischer Administrator des Bistums Lugano. Anfang November 2023 wurde er in dieser Funktion bestätigt.


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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