Wie die Autorinnen zutreffend feststellen, handelt es sich um eine historische Studie, die sich klar von einer juristischen Studie abgrenzt. Damit werden zugleich implizit die Defizite benannt: Den Nachweis, ob die geltend gemachten Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs in allen Fällen tatsächlich stattgefunden haben, kann die Studie nicht erbringen.
Eine erste Einschränkung der Studienautorinnen: «Im Pilotprojekt konnte erst ein kleiner Teil der Fälle erfasst werden. Auf Basis der identifizierten Fälle lassen sich also bezüglich sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche der Schweiz nur vorläufige Aussagen machen.»
Im Rahmen des Pilotprojekts wurden 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs mit 510 Beschuldigten und 921 Betroffenen identifiziert.
Kernaussagen der Studie
Die Mehrheit der Betroffenen waren mit 56 % Männer, 39 % waren Frauen. In 5 % der Fälle liess sich das Geschlecht in den Quellen nicht eindeutig feststellen. In 74 % der Fälle handelte es sich um Minderjährige, in 14 % um Erwachsene; in 12 % der Fälle war das Alter nicht eindeutig feststellbar.
Die Beschuldigten waren bis auf wenige Ausnahmen Männer.
Zusätzlich zu den 1002 Fällen wurden 30 Fälle sexuellen Missbrauchs identifiziert, in denen die beschuldigten Personen einen Bezug zu einer Schweizer Institution der katholischen Kirche haben oder hatten, die Tat selbst aber im Ausland stattgefunden hat.
Tendenziell nahmen die Fälle im Verlauf der Untersuchungsperiode ab. Knapp 22 % der ausgewerteten Fälle ereigneten sich zwischen 1950 und 1959, über 25 % zwischen 1960 und 1969. Den darauffolgenden drei Jahrzehnten konnten jeweils rund 10 Prozent der Fälle zugeordnet werden. Von 2000 bis 2022 fanden noch 12 % der Fälle statt. In den restlichen Fällen war der konkrete Zeitpunkt nicht eruierbar.
Ein Mangel der Studie besteht in den fehlenden Angaben zur Art des Missbrauchs. Das Spektrum reiche «von problematischen Grenzüberschreitungen bis hin zu schwersten, systematischen Missbräuchen».
Die Studie unterscheidet drei soziale Räume, in denen es zu sexuellem Missbrauch kam: in der Pastoral (über 50 %), in katholischen Schulen, Heimen und Anstalten (30 %) sowie innerhalb von Orden und «ähnlichen Glaubensgemeinschaften» (2 %). Wo die weiteren Fälle (18 %) stattfanden, wird nicht gesagt.
Die Studie kommt zum Schluss, dass die überführten Täterinnen und Täter durch die Kirche in der Regel äusserst milde oder gar nicht bestraft wurden. «Die meisten Fälle, die den kirchlichen Verantwortlichen bekannt wurden, wurden nicht aufgeklärt, sondern verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert», so eine weitere Aussage der Studie. Dabei seien beschuldigte und überführte Kleriker systematisch, mitunter auch ins Ausland versesetzt worden, etwa um eine weltliche Strafverfolgung zu vermeiden oder einen weiteren Einsatz der Kleriker zu ermöglichen. Dieses Vorgehen habe sich erst im 21. Jahrhundert geändert – «als der Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen immer häufiger für Skandale sorgte».
Gleichzeitig räumt die Studie ein, dass es kirchenrechtliche Vorgaben für das Vorgehen in Missbrauchsfällen gegeben habe, diese aber in den meisten Fällen von den Verantwortlichen nicht eingehalten wurden.
Wenig Konkretes
Wer erwartet hat, dass die Studie die konkreten Fälle auflistet, wird enttäuscht. Der Bericht enthält ausser ein paar Fallbeispielen keine Informationen zu konkreten Meldungen. Allgemein enthält der Bericht sehr viele theoretische Texte wie z. B. die «Geschichte des Missbrauchsskandals: Vom Boston Globe zur Pilotstudie».
Viele Aussagen sind sehr pauschal formuliert. Wenn es z. B. heisst, dass Missbrauchsfälle vertuscht wurden, kann daraus nichts Konkretes abgeleitet werden. Hat der Bischof vertuscht? Hat er es allein oder mit dem Generalvikar oder dem Personalverantwortlichen getan? Oder wusste der Bischof nichts davon? Was ist mit der Anstellungsbehörde?
Auffallend ist, dass fast ausnahmslos von «Klerikern» gesprochen wird, wenn es um die Täter geht, obwohl nachweislich auch Nichtkleriker beschuldigt wurden.
Allgemein ist festzuhalten, dass im Bericht öfters unwissenschaftliche Aussagen gemacht werden und auch die Sprache einer wissenschaftlichen Arbeit nicht immer angemessen ist.
Beispiel: Über den ehemaligen Bischof von Chur, Wolfgang Haas, heisst es: «Bei der Priesterausbildung und -auswahl setzte er fortan seine eigenen Kriterien ohne Rücksicht durch.» Die Verfasser der Studien zitieren hier aus den Memorabilien von Peter Henrici, «Rückblick. Ereignisse und Erlebnisse», das mit Sicherheit kein wissenschaftliches Buch ist.
Bei einem weiteren Beispiel stützen sich die Autorinnen auf nicht verifizierte Drittaussagen: «Gemäss Aussagen von Zeitzeugen habe der vormalige Bischof Huonder während seiner Amtszeit regelmässig in seinem Büro Akten unbekannten Inhalts geschreddert. Der aktuelle Bischof Bonnemain konnte dieses Vorgehen seines Vorgängers nicht bestätigen bzw. hat keine Kenntnis davon. In welchem Ausmass und von wem Akten allenfalls vernichtet wurden, muss folglich in zukünftige Forschungsprojekten geklärt werden.» Warum hier ein normaler Vorgang – in welchem Büro werden keine Akten geschreddert? – als mögliche Vertuschung dargestellt wird, bleibt rätselhaft.
Auch andere Aussagen werden nicht begründet. So wird im Bezug auf das Bistum Lugano der Verdacht geäussert: «Dass das Fachgremium des Bistums Lugano nur so wenige Fälle behandelte, ist wohl kaum darauf zurückzuführen, dass in der Untersuchungsperiode im Tessin nur sehr wenige Fälle sexuellen Missbrauchs stattgefunden haben. Vielmehr deuten sie auf eine starke Zurückhaltung von Betroffenen bei der Meldung von Missbrauchsfällen an das Fachgremium im Tessin hin, die sich auch im Fehlen von Betroffenenorganisationen, wie es sie in der französischen und deutschen Schweiz gibt, äussert.»
Unter Generalverdacht
Gemäss der «katholischen Glaubenslehre» seien «Neue geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen» (NGGB) durch den «Heiligen Geist inspiriert», der durch eine «Gründerperson» wirkt, die ein «Charisma» empfangen habe». Aufgrund dieser Charakterisierung, die eigentlich auf allen Orden und Gemeinschaften zutrifft, zieht die Studie den Schluss: «Für eine Untersuchung von sexuellem Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche sind die NGGB aus verschiedenen Gründen von besonderem Interesse: NGGB bilden (teil-)autonome Strukturen innerhalb des Katholizismus in der Schweiz, sind innerhalb der katholischen Kirche päpstlich ‹akkreditiert› und dürfen damit eigene Gebetsräume, eine eigene Spiritualität und eigene Orte des Zusammenlebens betreiben, die nicht an eine Pfarrei oder an ein Bistum an gegliedert sind. Dadurch entstehen spezifische Räume, in denen Machtmissbrauch, sexueller und spiritueller Missbrauch möglich sind. Weiter sind NGGB oft international organisiert und entziehen sich dadurch teilweise der Kontrolle der katholischen Hierarchie.» Damit stellt die Studie pauschal alle Orden und Gemeinschaften unter Generalverdacht.
Schon fast grenzwertig sind die Verdächtigungen, die die Studie gegenüber fremdsprachigen Missionen vorbringt. In ihnen seien «gewisse strukturelle Merkmale vorhanden, die das Potential für sexuellen Missbrauch tendenziell erhöhen, das Sprechen über denselben verhindern sowie Sanktionierung und Prävention erschweren». Durch «die Betreuung in der Muttersprache» und durch «die Bereitstellung von sozialen Dienstleistungen wie der Organisation von Kinderbetreuung oder von Freizeitaktivitäten» seien sie oft «nach innen orientiert». Gleichzeitig würden sie die Kleriker «in einem hohen Grad verehren». Was für jede Schweizer Pfarrei zur Normalität gehört, wird gleich problematisch, sobald es sich um eine anderssprachige Pfarrei handelt. Die Studie äussert – wieder ohne konkrete Beweise – die Vermutung: «Für Priester, die aus ausländischen Bistümern in die Schweiz versetzt wurden, besteht zumindest der Verdacht, dass die verantwortlichen Bischöfe auch ‹problematische› oder sogar des sexuellen Missbrauchs überführte Kleriker zur Betreuung der migrantischen Gemeinden in der Schweiz sendeten. Diesen Verdacht gilt es in künftigen Studien zu prüfen.»
Das katholische Spezifikum
«Sexuellen Missbrauch gibt es zweifelsfrei nicht nur im Umfeld der katholischen Kirche» hält die Studie fest und zitiert Birgit Aschmann: «Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass andere Institutionen oder Sportvereine nicht minder davon geprägt sind und dass sich die meisten sexuellen Übergriffe auf Kinder im direkten familiären Umfeld ereignen.»
Das katholische Spezifikum ortet die Studie zunächst in der «Macht». Es bedürfe einer grundsätzlichen Perspektivenverschiebung, «weg von einer Interpretation von Missbrauch als ‹individueller Abweg› der Täterin oder des Täters hin zu einer systematischen Betrachtung des Zusammenhangs zwischen sexuellen Missbräuchen und Machtverhältnissen». Als zweites wird die katholische Sexualmoral genannt und darin der Zölibat. Dann wird auch die Ablehnung der Homosexualität als Grund für die Missbrauchsfälle behauptet.
«Gerade der Bereich der Sexualität und die moralischen Implikationen der Glaubenslehre führen aber zu spezifischen katholischen Problemen und Gefährdungspotenzialen. Theologisch zentrale und auch kirchenpolitisch emotional besetzte Themen wie die katholische Sexualmoral, die Stellung von Priestern, inklusive des Zölibats, oder auch das Sakrament der Beichte müssen im Sinne der Prävention von sexuellem Missbrauch zwangsläufig thematisiert und in einigen Aspekten laut Aussagen von Fachpersonen auch angepasst werden, da sie einen wichtigen Teil des Manipulationspotenzials innerhalb der kirchlichen Strukturen ausmachen.»
Empfehlungen
Das Forschungsteam empfiehlt der Katholischen Kirche Schweiz:
- Errichtung einer unabhängigen Anlaufstelle.
- Erweiterung von schriftlichen Quellen durch mündliche Berichte, systematische Aufnahme von Betroffenenaussagen/Erinnerungen.
- Keine weitere Vernichtung von thematisch relevanten Dokumenten.
- Verbesserung von Zustand und Ordnung der kirchlichen Archive.
- Offener Zugang zu kirchlichen Archiven für Forschende und Betroffene, nicht nur in der Schweiz, sondern auch international (insbesondere zu Archiven des Vatikans).
- Neben historischen Forschungsprojekten wird die Durchführung weiterer Forschungsprojekte aus anderen Disziplinen vorgeschlagen.
Im Rahmen der Medienkonferenz stellte Bischof Joseph Maria Bonnemain vier konkrete Umsetzungsmassnahmen in den Raum:
- Selbstverpflichtung zur Aufbewahrung der Akten;
- Schaffung verschiedener unabhängiger Meldestellen;
- Standardisierte psychologische Abklärung für alle, die einen Dienst in der Kirche übernehmen oder einem Orden resp. einer Gemeinschaft beitreten wollen;
- Professionalisierung des Personalwesens.
Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz (KOVOS) sowie die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) beauftragten das Historische Seminar der Universität Zürich mit einer Pilotstudie, die den sexuellen Missbrauch im Umfeld der Römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts erforschen sollte. Die Pilotstudie, die von Mai 2022 bis April 2023 dauerte, umfasste sämtliche Schweizer Diözesen, die staatskirchenrechtlichen Strukturen und die Ordensgemeinschaften der Schweiz. Das Forschungsteam der Universität Zürich wurden von den beiden Professorinnen Monika Dommann und Marietta Meier geleitet und von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet, dessen Mitglieder aus verschiedenen Disziplinen stammen.
2002 erliess die Schweizer Bischofskonferenz erstmals Richtlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch und 2003 nahm das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» seine Arbeit auf. Solche Fachgremien existieren heute in allen Bistümern; diese weisen gemäss Studie jedoch unterschiedliche Professionalisierungsgrade auf.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Bei Betroffenen über 18 Jahre kann eventuell von Taten gesprochen werden.
Bei Jugendlichen und Kindern lautet das richtige Wort VERBRECHEN. Die Studie in Portugal hat bei 4800 Opfern ein Durchschnittsalter von 11 Jahren festgestellt. Liebe Leserin, stellen Sie sich mal vor, es wären ihre Kinder oder ihre Enkelkinder.
"..was unsere Kirche bis heute in stolzer Selbsteinschätzung für unfehlbare Satzung anschaute". Das ist jetzt halt eben wirklich auch Parteinahme. Wenn Sie nur schon auseinanderdividieren wollen, wer "unsere Kirche" genau ist, sowie die Facetten des Bischofsamtes studieren, dann merken Sie, was ich hier meine.
Was das Prietertum betrifft verweise ich auf das Buch: Aus der Tiefe des Herzens von Robert Sarah, Mit einem Beitrag von Benedikt XVI. Herausgegeben von Nicolas Diat
Für ein radikal evangeliumsgemässes Priestertum
Das Priestertum erlebt eine Krise. Abscheuliche Skandale haben sein Gesicht verunstaltet und zahlreiche Priester in der Welt destabilisiert. Innerhalb der Kirche werden Krisen immer mithilfe einer Rückkehr zur Radikalität überwunden und nicht durch die Annahme von weltlichen Kriterien. Der Zölibat ist ein Skandal für die Welt. Wir stehen in der Versuchung, ihn zu schwächen. Das Gegenteil sollte der Fall sein: Er muss wiederentdeckt werden, und zwar so, wie Johannes Paul II. es beschrieb: " Der Geist, der den Priester weiht und ihn nach dem Bild Jesu Christi, des Hauptes und Hirten, gestaltet, schafft eine Verbindung, die - im Sein des Priesters selbst angelegt - danach verlangt, in persönlicher Weise angelebt zu werden, d. h. bewusst und frei, durch eine immer reichere Lebens-und Liebesgemeinschaft und ein immer intensiveres und radikaleres teilen der Empfindungen und Haltungen Jesu Christi. In dieser Verbindung zwischen dem Herrn Jesus und dem Priester, einer ontologischen und psychologischen, einer sakramentalen und sittlichen Verbindung, besteht das Fundament und zugleich die Kraft für jenes >Leben aus dem Geist> und jene
Wir sind auf ein evangeliumsgemässes Priestertum angewiesen. Ich hoffe, dass die Bischöfe Massnahmen bestimmen werden.
Merksch öppis?