Buchcover (Ausschnitt)

Interview

Pos­tu­lat der «freien Kir­che im freien Staat» in der Schweiz immer noch nicht umgesetzt

Diese Woche erscheint das neue Buch von Dr. Mar­tin Gricht­ing. In die­sem zeigt er aus­ge­hend von Alexis de Toc­que­ville auf, dass Auf­klä­rung und Reli­gion keine Gegen­sätze sind, son­dern sich viel­mehr bedin­gen. Das Zweite Vati­ka­ni­sche Kon­zil hat sich diese Erkennt­nis zu eigen gemacht. Dem schwei­ze­ri­schen Staats­kir­chen­recht steht die Umset­zung die­ser Erkennt­nis immer noch bevor.

Sie kommen in Ihren Veröffentlichungen immer wieder auf Alexis de Tocqueville zu sprechen. Was fasziniert Sie an ihm?
Dr. Martin Grichting: Genialität ist immer faszinierend. Tocqueville besticht, wenn es um die politische Philosophie geht, dadurch, dass er zu einem frühen Zeitpunkt Chancen und Gefahren der Demokratie klar benannt hat. Zum anderen ist er für das Christentum wichtig, weil er als Liberaler in diesem eine wesentliche Stütze für den Bestand und das Gedeihen der Demokratie erkannt hat. Er ist somit eine der wenigen tragfähigen «Brücken» zwischen einem sich zusehends abkapselnden Säkularismus und dem christlichen Glauben. Mit meinem neuen Buch versuche ich, auf diese Brücke hinzuweisen, sodass sie begangen wird in der Begegnung von Freiheit und Glaube.

«Die christlichen Märtyrer der ersten drei Jahrhunderte haben durch ihr Zeugnis weltgeschichtlich zum ersten Mal einen dem Staat vorenthaltenen freien Bereich des Gewissens des Individuums errungen», schreiben Sie in Ihrem Buch. Als das Römische Reich christlich wurde, kam es im Mittelalter und in der Neuzeit zu einem nicht selten intoleranten «christlichen» Staat. Was lief falsch?
Seit dem Hochmittelalter bildete sich, bedingt durch das germanische Lehens- und Gefolgschaftswesen, eine Allianz zwischen Thron und Altar heraus. Als es in der Neuzeit zu den Glaubensspaltungen kam, hat dieses Bündnis dazu geführt, dass religiöse Minderheiten unter die Räder gerieten. Der Pakt zwischen Monarchie bzw. Aristokratie und aristokratischer Kirchenhierarchie ist einer der wesentlichen Gründe gewesen, dass sich die Französische Revolution gegen die Religion wandte. Denn um Erstere niederzuwerfen, musste man auch Letztere bekämpfen. An den damaligen Verletzungen leiden wir heute noch. Es war gerade Tocquevilles Anliegen, Liberalismus und Glaube, Freiheit und Religion, miteinander zu versöhnen. Das ist bis heute nicht wirklich eingelöst. Religion und Aufklärung gelten nicht wenigen deshalb als unvereinbar. Religiöse erscheinen dann als bedauernswerte Zurückgebliebene.

Einer seiner Träume war in der Tat, den liberalen Geist mit dem Geist der Religion zu versöhnen. Warum hielt Alexis de Tocqueville die Religion für wichtig für den Staat?
Tocqueville sah in Amerika, das er 1830/31 bereist hatte, die Gefahren einer Massendemokratie und des uneingeschränkten Willens zu egoistischer Selbstverwirklichung. Er sah voraus, dass dies in eine neue Diktatur münden würde. In der Religion, der christlichen an erster Stelle, sah er einerseits ein Schutzwall gegen schrankenlosen Individualismus und eine Diktatur der Mehrheit. Er sah aber auch, dass weder die staatlichen Institutionen noch die Sitten allein Bestand haben würden ohne eine religiöse Grundlage. Im Grunde hat er das Böckenförde-Diktum vorweggenommen. Es besagt, dass der freiheitliche und säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.

Gleichzeitig war er für die Trennung von Kirche und Staat …
Tocqueville hatte erkannt, dass es gerade das Bündnis von Thron und Altar war, das die Religion geschwächt und ins Fadenkreuz der Aufklärer gebracht hatte. Seiner Meinung nach konnte Religion nur dann eine positive Rolle spielen für Staat und Gesellschaft, wenn sich die Religionsgemeinschaften, verstanden im institutionellen Sinn, auf «ihren» Bereich beschränkten. Es sollte dann die Aufgabe der christlich geprägten Bürger sein, das Christentum in den demokratischen Prozess einfliessen zu lassen. Aber eben nicht mehr im Sinne des alten Klerikalismus, sondern im Sinne der demokratischen Mitbestimmung. Die Trennung von Staat und Kirche war also nicht ein Mittel, um die Religion zu bekämpfen, sondern im Gegenteil, um ihr zu ermöglichen, unter den neuen demokratischen Verhältnissen in der Gesellschaft der Freien und Gleichen fruchtbar wirken zu können.

Alexis de Tocqueville formulierte lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, dass es die Aufgabe der Gläubigen sein sollte, politisch tätig zu sein, während der Klerus sich aus der Politik heraushalten müsse – ausser es geht um die Grundrechte. Die Kirche scheint Mühe mit der Umsetzung dieser Forderung des Konzils. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Was das Zweite Vatikanische Konzil im IV. Kapitel von «Lumen Gentium» über die Sendung der Laien gelehrt hat, ist in der Tat heute in der Breite der Kirche weder bekannt noch verstanden und wird auch kaum verkündet sowie nur bedingt gelebt. Es herrscht immer noch eine institutionalistische Sicht der Kirche vor, wie man am so genannten Synodalismus derzeit sieht: Kirche wird zuerst faktisch auf ihre amtliche Struktur reduziert, an der dann an alle teilhaben sollen, um so von aussen in die «Welt» hineinzuwirken. Weil man dabei Klerus und Laien einebnet, kommt man sich noch «progressiv» vor. Dabei handelt es sich jedoch nur um die Fortschreibung und Verdrehung des institutionalistischen Kirchenverständnisses von Trient.

Ein Konzil braucht in der Regel 100 Jahre, bis es verstanden und gelebt wird, sagt man. Ich denke, dass die nach wie vor aus Gewohnheit herrschende vorkonziliare Sichtweise zuerst sterben muss, bevor man sich dem Zweiten Vatikanischen Konzil wirklich zuwendet. Dieser Sterbeprozess ist, auch in der Schweiz, in vollem Gang. Denn wer will sein Leben hingeben oder auch nur seine Zeit opfern, um in Stuhlkreisen über Kirchenstrukturen und Strategien zu diskutieren? Tocqueville und die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils haben mehr von der Neuzeit und deren Charakteristika verstanden als die aktuell tonangebende Kirchennomenklatura.

Für Alexis de Tocqueville war das Christentum prädestiniert für das Zusammenwirken von Staat und Religion. Anderen Religionen gegenüber war er kritisch. Besonders im Islam sah er das Problem, dass dieser keine «Trennung» in Klerus und «weltliche» Anhängerschaft kennt. Wir schätzen Sie die Situation heute ein?
Tocqueville hat, wie ich in meinem Buch zeige, auch hier sehr früh die Problematik verstanden. Er hat sich intensiv mit dem Islam befasst und erkannt, was heute vor aller Augen ist: Dass eine Gesellschaft, die auf der Basis des herkömmlichen Islam beruht, nicht fähig ist, Freiheit, Gleichheit und Grundrechte für alle zu garantieren.

Wie würde sich wohl Alexis de Tocqueville über das aktuelle Verhältnis von Katholischer Kirche und Politik in der Schweiz äussern?
Er würde die Übergriffigkeit des Staates, der mit der Schaffung seiner Staatskirchen die Religionsfreiheit verletzt, verurteilen. Was er damals den Politikern gesagt hat, gilt auch heute noch für die Schweiz: «Überlasst die Dogmen denen, die den Auftrag haben, über Dogmen zu sprechen. Das trägt nicht nur zur Ruhe innerhalb der religiösen Gesellschaft bei, sondern auch zur Sicherheit der Zivilgesellschaft. Das beste Mittel, den Klerus in seiner Sphäre zu halten und ihn energisch dorthin zurückzustossen, wenn er aus ihr ausbrechen will, besteht darin, niemals aus unserer Sphäre auszubrechen. Es geht darum, die Linie sichtbar und dauerhaft zu machen, welche die beiden Mächte trennt».
 

Dr. Martin Grichting studierte Theologie in Fulda, München und Rom. Nach seiner Priesterweihe im Jahr 1992 setzte er seine Studien in Rom fort und promovierte in Kirchenrecht zum Thema: «Kirche oder Kirchenwesen? Zur Problematik des Verhältnisses von Kirche und Staat in der Schweiz, dargestellt am Beispiel des Kantons Zürich». Im Juli 2006 habilitierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Habilitationsschrift «Das Verfügungsrecht über das Kirchenvermögen auf den Ebenen von Diözese und Pfarrei». Nach seiner Tätigkeit als Pfarrer war er von 2009 bis 2019 Generalvikar und Moderator Curiae des Bistums Chur.


Martin Grichting, Religion des Bürgers statt Zivilreligion. Zur Vereinbarkeit von Pluralismus und Glaube im Anschluss an Tocqueville. Schwabe-Verlag 2024. ISBN 978-3-7965-5060-7. 107 Seiten. Auch als E-Book erhältlich. Link


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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