Jan-Heiner Tück an den «Einsiedler Adventseinkehrtagen des Freundeskreis Hans Urs von Balthasar» 2022. (Bild: Pius Kölbener)

Interview

«Selbst im Abgrund der Hölle ist Gott gegenwärtig»

In sei­nem Buch «Crux. Über die Anstös­sig­keit des Kreu­zes» macht Jan-​Heiner Tück, Pro­fes­sor für Dog­ma­tik und Dog­men­ge­schichte in Wien, die ver­söh­nende und ret­tende Kraft des Kreu­zes sicht­bar. Im Inter­view mit swiss​-cath​.ch äus­sert er sich zu zen­tra­len Aus­sa­gen sei­ner neu­es­ten Publikation.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagten Sie kürzlich, dass der scheinbar äusserst verstörenden Szene der Passion ein tieferer Sinn innewohne, der auch abseits von Religion gesellschaftliche Relevanz habe. Könnten Sie dies näher ausführen?
Das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol, das bei vielen Anstoss erregt – auch weil es in der Geschichte politisch und militärisch missbraucht worden ist. Das religiöse Symbol bietet aber zugleich Anstösse, die auch Anders- und Nichtgläubigen etwas sagen können. Vielleicht darf ich ein Beispiel nennen. Als in Uruguay um 1900 Politiker forderten, die Kruzifixe aus den Spitälern zu entfernen, intervenierte der agnostische Philosoph José Enrique Rodó, das Kreuz solle bleiben, es könne als «Modell der Liebe und der Selbstlosigkeit» auch Atheisten etwas sagen. Das ist natürlich eine wohlwollende Lesart, die nicht jeder teilen wird. Aber das Kreuz erinnert sichtbar an das Leiden und Sterben eines Unschuldigen. Damit steht es quer zur gesellschaftlichen Tendenz, das Leid zu verdrängen und die eigene Verwundbarkeit zu verstecken. Es lädt ein zu einer Kultur der compassio mit anderen und zu einem ehrlichen Umgang mit sich selbst. Das Kreuz ist Spiegel der eigenen Fehlbarkeit. Wir sind nicht so perfekt, wie wir vor anderen und vor uns selbst gerne sein würden. Wir üben uns früh darin, Schuld auf andere abzuwiegeln. Die Betrachtung des Gekreuzigten durchkreuzt diesen Mechanismus der Fremdbezichtigung und konfrontiert uns mit dem Bösen, das als dunkle Möglichkeit auch in uns schlummert. Es ist damit Anstoss zu einer Kultur der Wahrhaftigkeit, die Versagen nicht verdrängt. Jesus selbst hat die Gottes- und Nächstenliebe, ja den Gewaltverzicht nicht nur gepredigt, sondern bis in den Tod hinein verwirklicht. Er ist die inkarnierte Feindesliebe! Noch sterbend hat er für seine Peiniger um Verzeihung gebetet (Lk 23,34). Das Kreuz steht daher auch für eine Kultur der Vergebung, die den anderen nicht auf seine Fehler fixiert. Ein Denken in Freund-Feind-Schemata, das heute in den gesellschaftlichen und kirchlichen Debatten zunimmt, kann sich daher nicht auf Jesus berufen. Am Ende ist das Kreuz das österliche Zeichen des Durchbruchs zu einem Leben, das keinen Tod mehr kennt. Vor Damaskus hat Paulus eine Erfahrung gemacht, die sein Leben umgestürzt hat: der Gekreuzigte lebt. Nur so ist verstehbar, dass aus dem fanatischen Verfolger der emphatische Bekenner und Völkerapostel geworden ist.

Sie gehen in Ihrem Buch unter anderem auf den Vorwurf ein, dass Gott als blutrünstiger Vater seinen Sohn opferte resp. von ihm dieses Opfer verlangte.
Das ist ein Topos, der immer wieder kritisch gegen den christlichen Erlösungsglauben eingewandt wird. Ernst Bloch hat vom «Kannibalen im Himmel» gesprochen. Aber nicht Gott braucht etwas vom Menschen, sondern der Mensch braucht etwas von Gott. Und das Kreuz ist der Ernstfall der Liebe Gottes zu uns: «Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat» (Joh 3,16). Zugänge zum Mysterium der Passion Jesu zu bahnen, ist freilich nicht leicht. Einen Deutungsschlüssel bietet das lateinische Wort «traditio», das semantisch mehrschichtig ist und «Auslieferung», «Hingabe», aber auch «Verrat» bedeutet. Der Vater ist bereit, den Sohn dem Leiden auszuliefern, er interveniert nicht, sondern lässt dem Drama der Freiheit seinen Raum; der Sohn protestiert nicht, wie das Ringen im Garten Gethsemane zeigt, er ist bereit, den Kelch des Leidens anzunehmen: «Nicht wie ich will, sondern wie du willst.» Er verwandelt die brutale Hinrichtung am Kreuz von innen her in einen Akt der freiwilligen Selbsthingabe für uns. Das hat er vorweg in der Identifikation mit dem gebrochenen Brot beim letzten Abendmahl deutlich gemacht. Von Judas verraten, von seinen Jüngern verlassen, von den römischen Soldaten verspottet und hingerichtet, übergibt er sich am Ende voll Vertrauen in die Hände des Vaters. In seinem Sterben tritt er zugleich an die Seite der Entwürdigten. Das bringt die Kategorie der Solidarität gut zum Ausdruck. Er tritt aber auch an der Seite der Schuldiggewordenen und befreit sie von der Last ihrer Verfehlungen. Das wird durch die Kategorie der Stellvertretung angedeutet. Die rettende und versöhnende Kraft des Kreuzes Christi sprengt letztlich jedes System. Sie wird in meinem Buch «CRUX» daher nicht nur theologisch, sondern auch aus den Blickwinkeln der Literatur, Kunst und Philosophie beleuchtet.
 


Der Karsamstag – von Ihnen als Generalpause bezeichnet – geht oft unter. Der Abstieg Christi in die Unterwelt wirft jedoch die wichtige Frage auf, wer nun gerettet wurde und wird: Alle oder doch nur die Gerechten?
Das Geheimnis des Karsamstags hat eine grosse Aktualität. Viele haben den Eindruck, dass Gott sich zurückgezogen hat, dass er schweigt. Dieses epochale Gefühl der Abwesenheit und des Vermissens, das ich in die Metapher der Generalpause zum Ausdruck gebracht habe, wäre in der Theologie heute ernster zu nehmen und sollte nicht durch eine pastoral geschwätzige Gottprotzigkeit zugedeckt werden. In der vormodernen Eschatologie hat man sich den Höllenabstieg im Rahmen einer Topographie des Jenseits ausgemalt. Christus steigt in die Unterwelt hinab, besiegt den Teufel und befreit so die wartenden Gerechten des Alten Bundes aus dem Reich des Todes. Das können Sie auf vielen Ikonen der Ostkirche eindrucksvoll dargestellt sehen. Heute wird die Hölle nicht mehr als lokalisierbarer Ort postmortaler Strafe, sondern in personalen Kategorien als Verlorenheit und Kommunikationsverlust beschrieben. Hölle meint dann, dass endliche Freiheit sich endgültig von Gott, der Quelle des Lebens, abwenden kann. Die Pointe der Karsamstagstheologie, wie sie der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar entfaltet hat, besteht darin, dass Gott auch für dieses finale Scheiternkönnen menschlicher Freiheit noch einmal «Vorsorge» getroffen hat. Der tote Christus ist an den Ort der Verlorenheit und des Gottesverlustes als Mitverlorener getreten. Dort stört er die selbstgewählte Isolation der Verlorenen auf, um ein letztes Angebot des Heils aufzurichten. Man kann also zugespitzt sagen: Es gibt keinen Ort, an dem Gott nicht seine rettende Hand austreckt, selbst im Abgrund der Hölle ist er gegenwärtig. Dieses Geheimnis des Karsamstags ist der Grund für eine Theologie, die für alle zu hoffen wagt. Das ist mit einer billigen Allversöhnungstheologie nicht zu verwechseln, die das Gericht vorwegnimmt, wenn sie lehrt, dass alle gerettet werden, und so die Brüche und Abgründe der Geschichte nicht wirklich ernst nimmt.

An vielen Orten wurden Kreuze im öffentlichen Raum verboten. Sie zitieren in diesem Zusammenhang den Satz von Thomas Hürlimann: «Erst verschwinden die Zeichen, dann verschwindet das Bezeichnete.» Sie gehen auch auf den Vorfall am Tempelberg ein, als Reinhard Kardinal Marx und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland ihre Kreuze ablegten. Soll man im Rahmen der Toleranz resp. Religionsfreiheit auf Kreuze verzichten?
Kreuze im öffentlichen Raum provozieren. Das hängt mit den Transformationen des religiösen Feldes zusammen. Aus ehemals christlichen Gesellschaften sind längst religionsplurale und weltanschaulich bunte Gesellschaften geworden. Auch steigt der Anteil der Bekenntnislosen. Auf diese Situation muss man religionsrechtlich sensibel reagieren. In «CRUX» spreche ich mich gegen zwei Extreme aus: Eine Politik der weissen Wand, die religiöse Symbole aus der Öffentlichkeit verbannt und damit letztlich die Religionslosen privilegiert, erscheint mir ebenso problematisch wie Erlasse der Politik, in staatlichen Einrichtungen Behördenkreuze anzubringen.1 Der Verdacht einer politischen Instrumentalisierung des Kreuzes steht hier im Raum. Das Argument, das Kreuz sei eben ein «bayrisches Kultursymbol», der Erlass würde daher die weltanschauliche Neutralität nicht verletzen, überzeugt mich nicht. Gewiss, Kreuze gewährleisten zeichenhaft die Anbindung an die christlichen Wurzeln der Kultur und Geschichte. Zugleich wird die theologische Anstössigkeit des Symbols bewusst ausgeklammert, um nicht gegen den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität zu verstossen. Angemessener erscheint es mir, dem Grundsatz der positiven Religionsfreiheit mehr Rechnung zu tragen und religiösen Akteuren zu ermöglichen, im öffentlichen Raum ihr Bekenntnis symbolisch zum Ausdruck zu bringen. Der Vorgang am Jerusalemer Tempelberg, den Sie ansprechen, ist delikat gewesen. Hier haben die obersten Repräsentanten der beiden deutschen Kirchen ihr amtliches Brustkreuz abgelegt. Sie haben den Tempelberg aber nicht als private Touristen, sondern als offizielle Vertreter des Christentums besucht – durchaus mit entsprechender medialer Inszenierung ihrer «gemeinsamen Pilgerreise». Befürworter haben das Ablegen der Kreuze als eine sensible Geste der Toleranz vor dem muslimischen Gastgeber gedeutet. Ich teile diese Lesart – gerade im Blick auf die bedrängten Christen im Nahen Osten – nicht. Das heisst aber nicht, dass ich den Inkriminierungsfuror befeuern möchte, mit dem Kardinal Reinhard Marx und Bischof Heinrich Bedford-Strom nach dem Vorgang konfrontiert waren. «CRUX» wirbt vielmehr für ein Verständnis interreligiöser Begegnung, in dem das eigene Bekenntnis, das im Kreuz verdichtet zum Ausdruck kommt, nicht versteckt wird, sondern produktiv in das Gespräch eingebracht werden kann. Es ist nicht bekannt, dass Papst Franziskus bei seinen Gesprächen mit Repräsentanten anderer Religionen das Kreuz ablegen würde – auch bei seinen Moscheebesuchen nicht.
 


Als Titelbild wählten Sie ein beschädigtes Kreuzigungsbild aus dem Erzbischöflichen Palais in Wien. Warum?
Das Bild zeigt die theologiepolitische Anstössigkeit des Kreuzes. «Christus ist unser Führer», hat Kardinal Theodor Innitzer im Oktober 1938 im Wiener Stephansdom mehreren Tausenden Jugendlichen zugerufen. Das war für die Anhänger Hitlers eine dreiste Provokation. Am nächsten Tag stürmten SA-Leute und eine aufgestachelte Gruppe der «Hitler Jugend» das Erzbischöfliche Palais. Bei diesem Bildersturm im Zeichen des Hakenkreuzes wurde mit Teppichstangen auch das spätklassizistische Kreuzesbild durchstossen und durchstochen. Die NS-Ideologie des Herrenmenschen hat sich ausgetobt am Symbol, das für die compassio mit den Leidenden und Schwachen steht. Man hat das beschädigte Kreuz nach dem Krieg nicht restauriert, so hängt es bis heute dort als Mahnmal.

Wenn Sie jemandem, der das Christentum nicht kennt, die Bedeutung des Kreuzes in wenigen Sätzen erklären müssten, was würden Sie sagen?
Das Kreuz verschränkt zwei Balken. Der eine Balken weist nach oben und steht gegen Transzendenzvergessenheit, der andere streckt die Arme ins Weite aus und öffnet den Blick für die anderen. So kommt es zu einer Verschränkung – wie in der jesuanischen Ethik die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten zusammengehen. Das Kreuz ist – christlich betrachtet – Zeichen der Liebe, die bis ins Äusserste geht. Jesus ist am Kreuz gestorben für das, was er verkündet und gelebt hat. Er hat die Gottes- und Nächstenliebe nicht nur gepredigt, sondern auch sozial Stigmatisierten und öffentlichen Sündern seine barmherzige Zuwendung geschenkt. Das hat provoziert. Jesus hätte dem Drama des Kreuzes ausweichen und fliehen können. Das hat er nicht getan. Daher kann man das Kreuz als einen Akt der Besiegelung seiner Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes deuten. Mit dem Tod des Boten wäre aber auch die Botschaft tödlich getroffen gewesen, wenn Gott den Gekreuzigten nicht zu einem Leben erweckt hätte, das keinen Tod mehr kennt. Insofern ist das Kreuz auch ein Hoffnungszeichen. Es verheisst, dass am Ende nicht der Ozean des Nichts steht, in dem wir versinken, sondern das ewige Leben in der Gemeinschaft mit Gott, das keine Auferstehungstechnologie und kein Transhumanismus werden produzieren können. Nach der Erinnerung an das Leiden am Karfreitag und der Stille und der Gottesnacht am Karsamstag feiern Christen und Christinnen an Ostern, das Liebe stärker ist als der Tod.

 

 

 

Jan-Heiner Tück, Crux. Über die Anstössigkeit des Kreuzes. Freiburg i. Br. 2023, ISBN 978-3-451-39197-2

 

 

Prof. Dr. Jan-Heiner Tück hält am 3. April um 19 Uhr in der Pfarrei Heilig Kreuz in Zürich einen Vortrag zur Einstimmung auf die Karwoche. «Die Sache mit dem Kreuz». Pfarreisaal Heilig Kreuz, Saumackerstrasse 83, Zürich. Der Eintritt ist frei. Link

 


1 Am 24. April 2018 beschloss die bayrische Landesregierung, dass ab dem 1. Juni 2018 in allen Dienstgebäuden des Freistaats ein Kreuz angebracht werden soll.


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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