In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagten Sie kürzlich, dass der scheinbar äusserst verstörenden Szene der Passion ein tieferer Sinn innewohne, der auch abseits von Religion gesellschaftliche Relevanz habe. Könnten Sie dies näher ausführen?
Das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol, das bei vielen Anstoss erregt – auch weil es in der Geschichte politisch und militärisch missbraucht worden ist. Das religiöse Symbol bietet aber zugleich Anstösse, die auch Anders- und Nichtgläubigen etwas sagen können. Vielleicht darf ich ein Beispiel nennen. Als in Uruguay um 1900 Politiker forderten, die Kruzifixe aus den Spitälern zu entfernen, intervenierte der agnostische Philosoph José Enrique Rodó, das Kreuz solle bleiben, es könne als «Modell der Liebe und der Selbstlosigkeit» auch Atheisten etwas sagen. Das ist natürlich eine wohlwollende Lesart, die nicht jeder teilen wird. Aber das Kreuz erinnert sichtbar an das Leiden und Sterben eines Unschuldigen. Damit steht es quer zur gesellschaftlichen Tendenz, das Leid zu verdrängen und die eigene Verwundbarkeit zu verstecken. Es lädt ein zu einer Kultur der compassio mit anderen und zu einem ehrlichen Umgang mit sich selbst. Das Kreuz ist Spiegel der eigenen Fehlbarkeit. Wir sind nicht so perfekt, wie wir vor anderen und vor uns selbst gerne sein würden. Wir üben uns früh darin, Schuld auf andere abzuwiegeln. Die Betrachtung des Gekreuzigten durchkreuzt diesen Mechanismus der Fremdbezichtigung und konfrontiert uns mit dem Bösen, das als dunkle Möglichkeit auch in uns schlummert. Es ist damit Anstoss zu einer Kultur der Wahrhaftigkeit, die Versagen nicht verdrängt. Jesus selbst hat die Gottes- und Nächstenliebe, ja den Gewaltverzicht nicht nur gepredigt, sondern bis in den Tod hinein verwirklicht. Er ist die inkarnierte Feindesliebe! Noch sterbend hat er für seine Peiniger um Verzeihung gebetet (Lk 23,34). Das Kreuz steht daher auch für eine Kultur der Vergebung, die den anderen nicht auf seine Fehler fixiert. Ein Denken in Freund-Feind-Schemata, das heute in den gesellschaftlichen und kirchlichen Debatten zunimmt, kann sich daher nicht auf Jesus berufen. Am Ende ist das Kreuz das österliche Zeichen des Durchbruchs zu einem Leben, das keinen Tod mehr kennt. Vor Damaskus hat Paulus eine Erfahrung gemacht, die sein Leben umgestürzt hat: der Gekreuzigte lebt. Nur so ist verstehbar, dass aus dem fanatischen Verfolger der emphatische Bekenner und Völkerapostel geworden ist.
Sie gehen in Ihrem Buch unter anderem auf den Vorwurf ein, dass Gott als blutrünstiger Vater seinen Sohn opferte resp. von ihm dieses Opfer verlangte.
Das ist ein Topos, der immer wieder kritisch gegen den christlichen Erlösungsglauben eingewandt wird. Ernst Bloch hat vom «Kannibalen im Himmel» gesprochen. Aber nicht Gott braucht etwas vom Menschen, sondern der Mensch braucht etwas von Gott. Und das Kreuz ist der Ernstfall der Liebe Gottes zu uns: «Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat» (Joh 3,16). Zugänge zum Mysterium der Passion Jesu zu bahnen, ist freilich nicht leicht. Einen Deutungsschlüssel bietet das lateinische Wort «traditio», das semantisch mehrschichtig ist und «Auslieferung», «Hingabe», aber auch «Verrat» bedeutet. Der Vater ist bereit, den Sohn dem Leiden auszuliefern, er interveniert nicht, sondern lässt dem Drama der Freiheit seinen Raum; der Sohn protestiert nicht, wie das Ringen im Garten Gethsemane zeigt, er ist bereit, den Kelch des Leidens anzunehmen: «Nicht wie ich will, sondern wie du willst.» Er verwandelt die brutale Hinrichtung am Kreuz von innen her in einen Akt der freiwilligen Selbsthingabe für uns. Das hat er vorweg in der Identifikation mit dem gebrochenen Brot beim letzten Abendmahl deutlich gemacht. Von Judas verraten, von seinen Jüngern verlassen, von den römischen Soldaten verspottet und hingerichtet, übergibt er sich am Ende voll Vertrauen in die Hände des Vaters. In seinem Sterben tritt er zugleich an die Seite der Entwürdigten. Das bringt die Kategorie der Solidarität gut zum Ausdruck. Er tritt aber auch an der Seite der Schuldiggewordenen und befreit sie von der Last ihrer Verfehlungen. Das wird durch die Kategorie der Stellvertretung angedeutet. Die rettende und versöhnende Kraft des Kreuzes Christi sprengt letztlich jedes System. Sie wird in meinem Buch «CRUX» daher nicht nur theologisch, sondern auch aus den Blickwinkeln der Literatur, Kunst und Philosophie beleuchtet.
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