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Kirche Schweiz

Selbst­hass in der Kirche

Eine im Chris­ten nicht aus­zu­lö­schende Frage ist, wes­halb es so viel Böses gibt, wenn Gott doch das Gute dar­stellt. Wie kann eine Welt, die von Gott in Liebe erschaf­fen wurde, so viel Schlech­tes beinhalten?

Dieses Nachdenken führt uns in Bereiche der Philosophie und Theologie hinein, die unsere Vernunft übersteigen. In einer Welt, in der jeder Mensch glaubt, sein eigenes Glück suchen zu müssen, führt uns die Reflexion über die Existenz des Bösen zu einem Gedanken, der unserem heutigen Selbstbild diametral widerspricht. Ist es nicht ein grosser Selbsthass, der sich weigert, Gottes Liebe und Vergebung anzunehmen? Sicherlich ist jeder von uns schon einmal einem Menschen begegnet, bei dem wir uns fragten, weshalb dieser so ein destruktives Verhalten an den Tag legt. Ganz schmerzhaft wird es, wenn wir an uns selbst diese selbstzerstörerische Seite erkennen. Jesu Aufruf, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, bringt den Zusammenhang zwischen Selbstakzeptanz und Nächstenliebe zum Ausdruck. Wenn jemand sich selbst hasst, dann wird er auch seinen Mitmenschen hassen, da er die ganze Schöpfung verabscheut.

Nun vertreten einige Theologen die grundsätzlich einleuchtende Auffassung, dass die Kirche den Individuen helfen müsse, sich selbst anzunehmen und dass dabei die häufige Verwendung des Begriffs Sünde hinderlich sei. Dieser Gedankengang radikalisiert sich in letzter Zeit jedoch zur Forderung, die Kirche müsse sogar Verhaltensweisen segnen, die im Widerspruch zur katholischen Morallehre stehen. Eine positive Frucht der Pastoraltheologie der letzten Jahrzehnte war es, die Gläubigen nicht ständig mit ihrer Sündhaftigkeit zu konfrontieren, sondern die Liebe Gottes zu betonen. Dies stellt keine neue Theologie dar, da die Verkündigung der Kirche immer eine Frohbotschaft war, aber es gab hier in den letzten 70 Jahren sicherlich eine Akzentverschiebung, bei der die Betonung der Barmherzigkeit Gottes diejenige seiner Gerechtigkeit dominierte. In einem Jahrhundert, in dem zwei furchtbare Weltkriege Europa zerstörten, in dem die Massengesellschaft das Individuum entwurzelte, in dem der technologische Fortschritt und die rasante Arbeitsteilung den natürlichen Lebensrhythmus zertrampelten, war es richtig, dass das Bild des guten und väterlichen Gottes die Predigten der Priester und Bischöfe beherrschte. Dass dies wohl auch dem Willen des Herrn entspricht, zeigt die Tatsache, dass der Kirche in den grossen Wirren der Zwischenkriegszeit Schwester Faustyna geschenkt wurde, welcher Jesus auftrug, der Welt seine grosse Barmherzigkeit zu verkünden. Jeder gute Lehrer weiss, dass schlechte, undisziplinierte und von Misserfolgen geplagte Schüler mehr Anerkennung und Lob brauchen als gute und brave Schüler. Die am Boden liegende und auf sich selbst zurückgeworfene Menschheit des 20. und 21. Jahrhunderts braucht Gottes Zuspruch wahrscheinlich intensiver als frühere Zeiten.

Das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
Der pastorale Gedanke, die Würde des Menschen zu stärken, indem nicht das Defizitäre an ihm in den Vordergrund gerückt wird, sondern das Positive, ist weiterhin zu bejahen, wobei dies nicht zur infantilen Haltung verkommen darf, die Existenz des Schlechten und Sündhaften zu leugnen. Das angeborene Gewissen des Menschen kann nicht durch eine Änderung der Morallehre ausgeschaltet werden. Es ist ein Widerspruch in sich, wenn die gleichen progressiven Theologen, die der Kirche vorwerfen, in früheren Zeiten einen zu rigorosen Moralismus betrieben zu haben, nun glauben, die Kirche könne umgekehrt mit einer Relativierung der Moral die Gewissensbisse abschaffen, welche den Menschen aufgrund sündhaften Handelns belasten. Genauso wie harte Busspredigten nicht unmittelbar die Promiskuität einiger Zuhörenden änderten, wird kein Seelsorger von der Kanzel herab der Natur widersprechendes Handeln glaubhaft für richtig erklären können. Auch wenn dieser Versuch im Einzelfall durchaus gut gemeint sein kann, verbleibt er in der Selbstlüge, die nicht von Gott stammt und Sender und Empfänger der falschen Botschaft in die Sackgasse führt.

Denn wenn es stimmte, dass es die überhöhte Moral der Kirche ist, die in der Vergangenheit zu einer fehlenden Selbstakzeptanz bis hin zum Selbsthass verleitet habe, müsste diese Einstellung in der zunehmend säkularen westlichen Welt überwunden sein. Die Tatsachen sprechen hier jedoch fundamental dagegen. Die Selbstunsicherheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, von denen viele ohne religiöse Bildung aufgewachsen sind, hat massiv zugenommen. Es ist unerheblich, ob man dies dem Erwartungsdruck der Eltern, dem Einfluss der sozialen Medien oder anderen Faktoren zuschreibt. Fakt ist, dass wir keine Abnahme des Selbsthasses sehen, sondern eine Zunahme, die sich in Burnouts, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen manifestiert. Sie manifestiert sich aber auch in den Idealen der heutigen Jugend. Gingen in den 80er-Jahren junge Leute auf die Strasse, um sich für die Umweltbewegung, aber vor allem auch in der Friedensbewegung zu engagieren, verwirklichen sich die heutigen Adoleszenten in einer radikalen Ökobewegung, die anders als frühere Ansätze nicht nur einen Umweltschutz propagiert, sondern eine Apotheose der Natur betreibt, bei welcher der Mensch zum unnützen Schädling degradiert wird, der sein Leben und seine Lebensweitergabe zugunsten der Flora und Fauna massiv einschränken soll. Dem Aufruf des Heiligen Vaters, sich in Zeiten des Krieges für den Frieden einzusetzen, folgen hingegen nur sehr wenige Menschen. Sind dies nicht die klarsten Anzeichen einer morbiden Todessehnsucht, die unsere Gesellschaft gefangen hält? Und ist diese Todessehnsucht nicht das Produkt eines destruktiven Selbsthasses?

Zerrbild der Kirche
Anders als Papst Franziskus, der immer wieder die Heiligkeit des Lebens und die Notwendigkeit der Lebensfreude betont, schafft es unsere Ortskirche in der Schweiz nicht, sichtbare Zeichen gegen diesen Selbsthass zu setzen, obwohl oder vielmehr gerade weil sie von den liberalsten und progressivsten Theologen, die das Wort Sünde gar nicht erst in den Mund nehmen wollen, durchsetzt ist. Anders als gehofft, hat die vom Sündenfall entsorgte Kirche nicht zu einer harmonischen Gemeinschaft geführt, sondern viele Menschen in Positionen gebracht, die weiterhin mit sich und der Welt unzufrieden sind und durch diese Unzufriedenheit die Kirche von innen zerstören. In Pfarreiräten, Kirchenpflegen, Frauengemeinschaften, wuchernden staatskirchenrechtlichen Gremien bis hin zu einigen Pfarrämtern tummeln sich viele Personen, die keine Freude am Evangelium haben, sondern mit der kirchlichen Lehre im Clinch liegen. Diese negative Selektion ist nicht nur in der katholischen Kirche zu beobachten: Auch in der reformierten Kirche gibt es viele angehende Pfarrer, die das Theologiestudium nur gewählt haben, um ihre atheistischen Ansichten bestätigt zu bekommen. Wir müssen es an dieser Stelle offen und radikal sagen: Das hiesige institutionalisierte Christentum verkommt zu einer Kirche des Selbsthasses. Dieser Selbsthass wurde nun auch bei der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie zelebriert. Mit zerknirschten Minen verurteilten katholische Exponenten – darunter leider auch Bischöfe – die Vergangenheit der Kirche, ohne auf das Gute aufmerksam zu machen, das geleistet wurde. Für einen Aussenstehenden mussten sich einige Voten so anhören, als hätte es in der Kirche Jahrzehnte lang nur Triebtäter gegeben, die sich hinter ihrem Priestertum versteckten, um ihre Perversionen auszuleben. Man fühlt sich unweigerlich an Nietzsches «letzten Menschen» erinnert, der glaubt, die ganze Welt vor ihm sei irre gewesen. Die Katholiken dieser Couleur machen die von Jesus Christus gestiftete Kirche klein und hässlich. Dass es in der Kirche Missbrauch gab und leider immer noch gibt, ist keine Erkenntnis, welche die Verantwortungsträger derart erschüttern sollte, dass sie nun ihrer Hirtenaufgabe nicht mehr gerecht werden. Gerade in der heutigen Gesellschaft ist es äusserst wichtig, das christliche Menschenbild konsequent zu vertreten. Wenn die Kirche nun nur um ihre eigenen Probleme kreisend dahinvegetiert und zu wichtigen Fragen wie Abtreibung, Prostitution, zerrütteten Ehen, Leihmutterschaft und Sterbehilfe keine Stellung mehr zu beziehen wagt, verfehlt sie ihre Aufgabe total. Sie gliche dann nicht mehr Petrus, der zwar tief erschüttert über den Verrat war, den er an Jesus begangen hat, sich dann aber seiner Aufgabe bewusst wurde, das Liebeswerk Jesu auf Erden weiterzuführen, sondern Judas, der mit seinem Selbsthass nicht fertig wurde und sich das Leben nahm. Mit diesem Selbsthass wird nun versucht, das Priestertum und die katholische Morallehre, die heute wichtiger denn je wäre, zu zerstören. Die Priesterberufung stellt den lebendigen Beweis dar, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner egoistischen Triebe. Auch der konsequent nach katholischen Grundsätzen handelnde Laie ist ein Anstoss erregender Beleg für die christliche Hoffnung, dass der Mensch für Höheres geschaffen wurde. Anstoss erregen beide, der Priester und der katholische Laie, bei denjenigen Individuen, die unter einem tiefen Selbstwert und einer selbstzerstörerischen Abneigung gegen sich selbst leiden.

Schweizer Kirche am Scheideweg
Die Schweizer Kirche ist nun an einem Scheideweg: Will sie wie Judas im Selbsthass versinken oder möchte sie dem Beispiel Petri folgen und trotz aller eigenen Schwächen und Gebrechen das Evangelium verkünden? Genauso wie es in den letzten Jahrzehnten richtig war, einer durchgeschüttelten Gesellschaft das Bild des barmherzigen Gottes zu zeigen, ist es nun pastoral geboten, dem in den Abgrund führenden Zeitgeist zu widersprechen, indem die kirchliche Lehre verkündet wird, ob gelegen oder ungelegen. Das eine ist zu tun, ohne das andere zu lassen. Da die Schweizer Bischöfe momentan zu angeschlagen und zu schwach sind, der Kirche diese Glaubwürdigkeit zurückzugeben, müssen die Laien ihre Verantwortung, zu deren Übernahme sie durch das Zweite Vatikanum explizit aufgefordert wurden, wahrnehmen und einen Neuanfang wagen. Diesem Neuanfang kann weder eine Zerstörung der kirchlichen Lehre vorangehen noch ein nostalgisches Schwelgen von früheren Zeiten, in denen die Kirche noch scheinbar unbeeinflusst von modernen Strömungen war. Dem Neuanfang muss eine Wiederentdeckung der Frohen Botschaft vorangehen, die Christus uns geschenkt hat, um unseren durch den Sündenfall verursachte Selbsthass in Liebe zu uns und den Mitmenschen zu wandeln.


Daniel Ric


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Bemerkungen :

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    Dominique Kim 06.10.2023 um 11:35
    Ich, in meiner Jugend leider "zwangskatholisiert" mit vielen Ritualen und keinem Jesus, jetzt Jesusgläubiger (und gehe in eine Freikirche), wünschte mir, dass freikirchliche Pastoren des Öfteren auf dem Erkenntnis-Level dieses Beitrags wären... Zudem hoffe ich auch dass der Papst entschieden LGTBQ+ ablehnt und keine solche Verbindungen segnen wird, und falls doch, es die jesustreuen Katholiken ablehnen...
  • user
    Michael Dahinden, Riemenstalden 19.09.2023 um 15:47
    Ein Minimum müsste auch in der Hierarchie getan werden.
    1. Die Schweizer Bischöfe sollten wieder einmal sagen, dass die katholische Lehre nach wie vor ohne Abstriche gilt.
    2. Sie sollten klarstellen, wie sie normalerweise mit Querschlägern (z. B. Tatverdächtigen) umgehen.
    3. Die Bischöfe müssten sich sofort vom deutschsprachigen kath.ch verabschieden.
  • user
    Stefan Fleischer 19.09.2023 um 14:37
    Persönlich glaube ich,
    dass Selbsthass sich am besten bekämpfen lässt mit dem Bemühen um eine tiefe, gesunde Beziehung zu Gott. Wo Gott im Zentrum von allem steht, wird vieles, wenn nicht alles andere, viel weniger wichtig, besonders das ach so egozentrischer, liebe ICH. Deshalb heisst Neuevangelisation immer auch, den Menschen zu helfen, eine solche Beziehung aufzubauen und zu pflegen.
  • user
    Daniel M. Bühlmann 19.09.2023 um 14:04
    Herr Ric hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Gratulation für diesen mutigen, erhellenden Bericht. Mir kommt es momentan so vor wie den Jüngern im Boot, umtrieben vom Sturm und den tobenden Wellen, und ihrer Angst, sie würden gleich versinken. Mittendrin Jesu und die Frage: „Warum habt ihr solche Angst?“.