Ein beliebtes johanneisches Motiv bei den Anfängern: Der gute Hirt. (Bild: zVg)

Hintergrundbericht

Sicht­ba­rer Glaube

Wie sieht Gott aus? Diese Frage ist fas­zi­nie­rend! Der Mensch erlebt seine Umwelt über die Sinne: Er hört, riecht, schmeckt, sieht und berührt seine Aus­sen­welt. Gott offen­bart sich folg­lich dem Men­schen durch die Sinne. Diver­sen Stu­dien zufolge neh­men Men­schen 80 Pro­zent aller Infor­ma­tio­nen über das Auge wahr. Auf den christ­li­chen Glau­ben bezo­gen ist Gott dem­nach bis zu 80 Pro­zent «sicht­bar». Ein bild­theo­lo­gi­sches und bild­spi­ri­tu­el­les Gedankenspiel.

Körperlichkeit und Sinnlichkeit sind das Aushängeschild unserer modernen Zeit. Der fortschrittliche Mensch will nicht nur äusserlich schön sein: Er studiert zahlreiche Ratgeber rund um ein bewusstes Leben, achtet auf seine Ernährung, trainiert im Fitnessstudio und wer ganz trendy sein will, der besucht einen Yogakurs oder meditiert –schliesslich kommt die wahre Schönheit von innen.
Die Gesundheit und das Wohlbefinden des heutigen Menschen verlangen nicht nur viel Geld, sondern auch kostbare Zeit. Bewusster leben und in die Schönheit des Innern investieren ist trotzdem keine Erfindung moderner Ratgeber, sondern christliches Glaubensgut. Ausgerechnet jener Religion, die das Fleischwerden Gottes als Glaubensinhalt verkündet, wird indessen zu Unrecht Körperfeindlichkeit vorgeworfen. Schon allein der Blick in die römisch-katholische Liturgie genügt, um die Sinnesfreundlichkeit des Christentums offenkundig zu machen: Es wird gesehen, gerochen, geschaut, gehört, gegessen, getrunken und berührt. Anstelle der christlichen Tradition ist allerdings in der modernen Gesellschaft ein Kult der Lust und Schönheit getreten, der auch so manchen christlichen Alltag durchzieht und Erfüllung und Erlösung im Diesseits verheisst. Statt der göttlichen Heilsökonomie herrscht die Tyrannei der Sinneswahrnehmungen mit dem grössten Gebot der maximalen Lustgewinnung. Die Fastenzeit lädt hingegen ein: Back to the roots!

Ein sinnliches Evangelium
Unter allen Evangelien ragt das Johannesevangelium als das sinnlichste heraus: Der sehr gute Wein zu Kana wird heute noch geschmeckt (vgl. Joh 2), oder wer hat nicht den Verwesungsgeruch des Lazarus in der Nase (vgl. Joh 11 f.)? An Ostern stellen wir uns plastisch vor, wie Thomas seinen Finger in die Wunde Jesu hineinlegt (vgl. Joh 20).
Eine exegetische Studie aus dem Jahr 2016 erarbeitete akribisch den Sinn der Sinnlichkeit im Johannesevangelium heraus.[1] Der Evangelist Johannes schildert uns das Heilsgeschehen in Jesus Christus in vielfältigsten Aussagen über die sinnlichen Wahrnehmungen. So verwundert es nicht, dass die meisten Christusbilder in der Liturgie auch aus dem Johannesevangelium stammten (der Gute Hirt, der Weinstock und die Reben, der wahre Bräutigam, das Lamm Gottes usw.).
Die Menschwerdung des göttlichen Logos ermöglicht es, dass der Mensch Gottes Reich sehen, riechen, schauen, hören, schmecken und berühren kann. Die Erneuerung des Menschen betrifft sein ganzes Wesen, daher muss die christliche Liturgie eine sinnliche Liturgie sein. Unter allen Sinnen ragt allerdings einer besonders hervor: das Sehen.

Wir haben gesehen und bezeugen (vgl. 1 Joh 4,14)
Jeder weiss: Sehen heisst glauben und glauben heisst sehen. Dies veranschaulichen die Sehforschung und Medizin. Die Verarbeitung der visuellen Informationen im Gehirn ist höchst komplex. Der Weg führt durch den Thalamus zum visuellen Kortex und dann in immer abstraktere Ebenen. Dabei hat das Auge die Aufgabe, die elektromagnetischen Wellen des Lichtes in Nervenimpulsen umzuwandeln. Diese werden dann an das Gehirn weitergeleitet. So bedeutet organisches «Sehen», dass Licht von aussen ungehindert durch das Auge bis zur Netzhaut gelangt und dort Nervenzellen anregt. Das Bild von der Umwelt wird dann in einem vielschichtigen Vorgang im Gehirn zusammengefügt. Weiter gäbe es hier noch viel von Zapfen und Stäbchen zu berichten oder von Kurz-, Weit-, Alters- oder Stabsichtigkeit. Auch die ganzen Farbwahrnehmungen können faszinieren. Rund um das Auge sind so manche Antworten die Gralssuche der Sehforschung. Ausserdem kommt man in der ärztlichen Diagnostik und Therapie längst nicht mehr ohne Bildanalyse, Musterkennung und Visualisierung aus. Ein Röntgenbild, also ein medizinisches Bild, zeigt beispielsweise einen Bruch. Ob tatsächlich ein Bruch da ist, kann der Arzt bzw. die Ärztin erst mit einer Operation definitiv feststellen. Folglich weisen die medizinischen Bilder auf eine mögliche Wahrheit hin. So kommt man vom medizinischen Glauben zum tatsächlichen Sehen der Realität und vom Sehen auch zum Glauben. Ebenso zeigt die Liturgie andauernd «Röntgenbilder des Himmels»: beispielsweise in den Statuen, Bildern, liturgischen Handlungen und Symbolen, aber auch in der Art und Weise, wie wir Kirche sind und leben. Wir sehen und erfahren sozusagen den Himmel als ein Foto-Negativ, bis wir einst eingehen in die volle Wahrheit (vgl. Joh 20,29; Röm 8,24; 2 Kor 5,7). Wie wohltuend das doch ist: Mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit erfahren wir bereits den Himmel, das Reich Gottes in der Kirche. Der christliche Glaube erweist sich tatsächlich als ein sichtbarer Glaube – zumindest augenscheinlich als ein sinnlicher!

Die katholische Bildtheologie hat ihre Herausforderungen und nicht alles ist bereits erforscht und bis ins Detail ergründet. Wer sich allerdings auf das bildtheologische Gedankenspiel einlässt, entdeckt eine Tiefe, die einen staunen lässt.
 

Mike Qerkini (37) ist der Gründer der «Ikonen-Schule». Der «Verein Ikonen-Schule» (www.ikonen-schule.ch) engagiert sich in der praktischen und theoretischen Bildtheologie. Ikonographen des Vereins bieten Ikonenkurse oder auch bildtheologische und bildspirituelle Referate an.
Ein solcher bildtheologischer Anlass findet am 6. März 2024 um 19.30 Uhr im kath. Pfarreizentrum Horgen ZH statt. Das Thema an diesem Abend: «Sichtbarer Glaube – eine Einführung in das theologisch-spirituelle Verstehen von Josefs-Ikonen».

 


[1] Vgl. Rainer Hirsch-Luipold, Gott wahrnehmen. Die Sinne im Johannesevangelium, Ratio Religionis Studien IV, Tübingen 2017.


Mike Qerkini


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Bemerkungen :

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    Marijeta C. 17.02.2024 um 21:06
    Ich kann auch in der Pädagogik etwas aus der Bildtheologie gewinnen. Bilder besitzen eine starke Wirkung und können unser Leben positiv beeinflussen. Herzlichen Dank an die Ikonen-Schule und ihre Mitarbeiter.
  • user
    Edon Krasniqi 17.02.2024 um 15:40
    Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. Ich verfolge die Arbeit der Ikonen-Schule seit einigen Jahren. Die Ikonographen überzeugen mit grosser Professionalität und Liebe zur Schrift und zur Kirche. Die Ikonen von der Ikonen-Schule sind wirklich sehr schön und künstlerisch hochwertig. Es freut mich sehr, dass ein Ikonograph der Ikonen-Schule mir eine spezielle Ikone anfertigen wird. Bin gespannt!

    Ich wünsche den jungen Theologen und Theologinnen der Ikonen-Schule und dem Priester Mike alles erdenklich Gute! Vielen Dank für euren Dienst in und auch ausserhalb der Kirche!
  • user
    Lucia 16.02.2024 um 09:43
    Was mich an dieser Art von Theologie fasziniert ist, dass die Bild-Theologie einen in die Wirklichkeit führt. Hinein in das Geschehen. Den Glauben nahbar/ greifbar erscheinen lässt. Für die Christusbeziehung ist das nur vom Vorteil, da ich mich hinein in die Gnade Gottes fallen lassen kann. Die Ikonen-Kurse von der Ikonen-Schule helfen einen dabei seine eigene Seele in dem schreiben der Ikone widerspiegeln zu lasen und eins zu werden mit der Wirklichkeit Gottes.
    • user
      Mike Qerkini 17.02.2024 um 13:18
      Vielen Dank für Dein Feedback, liebe Lucia. Du zeigst der Leserschaft, dass die Bildspiritualität praktisch ist und im christlichen Alltag Kraft und Freude schenkt!

      Ich freue mich, dass Du die christozentrische Bildspiritualität über unsere Ikonen-Schule entdeckt hast. Wir bemühen uns weiter in der Bildtheologie zu erforschen und den Zugang dazu zu erschliessen. Ebenso versuchen wir mit unseren bildtheologischen Angeboten die Schönheit unseres Glaubens erfahrbar zu machen. Aus dem Ikonenkurs der Ikonen-Schule geht man erfüllt nach Hause ;)

      Pax et bonum, Mike