Garry Kasparov (Bild: Web Summit DG4_5276/flickr)

Hintergrundbericht

Sie ver­lo­ren ihre Hei­mat und erober­ten die Welt

Schach­welt­meis­ter, Pop-​Göttin, Nobel­preis­trä­ger, Erfolgs­un­ter­neh­mer: Arme­nier ver­blüf­fen rund um den Glo­bus mit Spit­zen­leis­tun­gen. Die Geschichte der ältes­ten christ­li­chen Nation lie­fert den Schlüs­sel zum Verständnis.

(Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Weltwoche)
Wissen Sie, wer hinter dem Biotechnologieunternehmen Moderna steckt, dessen Covid-19-Impfstoff weltweit nachgefragt wird? Es ist der armenische Chemiker Noubar Afeyan. Geboren 1962 in Beirut, entfloh er in seiner Jugend dem Bürgerkrieg im Libanon, studierte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und zählt heute zu den reichsten Menschen der USA.

Afeyan ist nur ein Beispiel erfolgreicher Armenier, die die Welt in Staunen versetzen. Der Reigen reicht von Chansonnier Charles Aznavour und Tennis-Ass Andre Agassi über Formel-1-Champion Alain Prost und Schachweltmeister Garri Kasparow bis zu Reality-TV-Ikone Kim Kardashian und Pop-Göttin Cher, die mit gebürtigem Namen Cherilyn Sarkisian heisst. Im Herbst 2021 ging der Medizin-Nobelpreis an Ardem Patapoutian.

Todesmärsche in der syrischen Wüste
Weltweit gibt es, je nach Schätzung, acht bis sechzehn Millionen Armenier. Nur drei Millionen sind in der Republik Armenien zu Hause. Der Grossteil des armenischen Volks lebt in der Diaspora, namentlich in der Türkei, in Russland, Frankreich und in den USA. Viele von ihnen halten ihre Herkunft hoch, so auch Moderna-Gründer Afeyan, der gewichtige philanthropische Projekte in Armenien unterhält. Er versteht das als «Rückzahlung der Schuld, die ich gegenüber anderen Armeniern empfinde, weil sie meiner Familie und mir geholfen haben, den Genozid und allerlei weitere Schwierigkeiten zu überleben».

Mit «Genozid» verweist Afeyan auf die grösste Katastrophe in der Geschichte der Armenier. Um dieses Trauma zu verstehen, müssen wir ins 19. Jahrhundert zurückblenden, in die Spätphase des Osmanischen Reichs, das damals als «kranker Mann am Bosporus» galt. Die christlichen Armenier lebten zu dieser Zeit vorwiegend im Osten des morschen Vielvölkerstaats. Sie waren unbewaffnet und somit leichte Beute für die kurdischen Stämme. Hilfesuchend wandten sie sich an den Sultan im fernen Konstantinopel (ab 1876 Istanbul genannt), der ihnen die kalte Schulter zeigte.

Nun nahmen sich Europas imperiale Mächte, vor allem das zaristische Russland, der Sache ihrer christlichen Glaubensbrüder an. Am Berliner Kongress von 1878 verpflichteten sie die Hohe Pforte, wie die osmanische Regierung genannt wurde, auf Reformen zugunsten der Armenier. Umgesetzt wurden sie nicht, denn Sultan Abdülhamid II. sah darin eine Gefahr für den Zusammenhalt seines Reichs. Stattdessen kam es zu Massakern, besonders in den Jahren 1895/96, bei denen bis zu 300 000 Armenier starben. Die Anteilnahme der Schweizer war überwältigend: 454 291 Bürger unterzeichneten eine Petition, die den Bundesrat zu einer diplomatischen Intervention aufrief.

Als der Sultan 1908 von den Jungtürken abgesetzt wurde, hofften die Armenier auf Besserung. Doch bereits im Frühjahr 1909 folgte im südtürkischen Adana das nächste Massaker. Nach dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands spitzte sich die Lage zu. Die herrschende jungtürkische Partei Komitee für Einheit und Fortschritt wollte verlorengegangene Gebiete zurückholen, sich mit den in Zentralasien lebenden Turkvölkern vereinen (Panturkismus/Turan) und die armenische Frage mit dem Schwert lösen.

Die Verhaftung führender Armenier am 24. April 1915 gilt als Auftakt des Genozids. Es folgten Todesmärsche ohne Verpflegung in die syrische Wüste, Ermordung durch Gendarmen und marodierende Verbrecher, Vergewaltigungen, der Raub von Frauen und Kindern, Zwangsislamisierungen. Zum Schluss sagte Talât Pascha, der Hauptorganisator der Armeniervernichtung, zum amerikanischen Botschafter Henry Morgenthau: «Die armenische Frage existiert nicht mehr.» Übersetzt: keine Armenier, also keine Parteinahme mehr für sie durch die Grossmächte.

«König von Las Vegas»
Vergessen ist das Unrecht nicht. 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords. Raphael Lemkin, der den Text massgeblich formulierte, hat den Begriff des Genozids unter dem Eindruck der Armenier- (1915/16) und Judenvernichtung (1941–1945) geprägt. Franz Werfel schilderte in seinem Roman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» eine authentische Episode dieser Tragödie. In Edgar Hilsenraths Roman «Das Märchen vom letzten Gedanken» ist sie das zentrale Thema.

Der Genozid stärkte – trotz weltweiter Zerstreuung – das Zusammengehörigkeitsgefühl der Armenier. Viele wollten fortan mithelfen, das Überleben der armenischen Nation im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu sichern. Casino-Unternehmer Kirk Kerkorian (1917–2015), als Kind armenischer Immigranten im kalifornischen Fresno geboren, später als «König von Las Vegas» bekannt, unterstützte die Republik Armenien mit dreistelligen Millionenbeträgen bei der Verbesserung der Infrastruktur.

Ähnliches gilt für den Ölhändler Calouste Gulbenkian (1869–1955), bekannt als «Mr Five Per Cent» (gemeint war sein Anteil am Ölvorkommen im Nahen Osten). Er starb als reichster Mann der Welt. Zwar vermachte er den Grossteil seines Vermögens dem portugiesischen Staat, verfügte jedoch testamentarisch, dass alljährlich namhafte Summen an die Republik Armenien und zur armenischen Diaspora fliessen.

Trotzdem wäre es zu kurz gegriffen, die Lebenswege von Afeyan, Kerkorian und Gulbenkian nur als Reaktion – als vielleicht unbewusstes Aufbäumen – gegen die Vernichtung zu begreifen. Auch der Verlust der Urheimat dürfte prägend wirken. Schliesslich reichen die Wurzeln der Armenier bis zu 3000 Jahre zurück, nach Ostanatolien in ein historisch als «Armenisches Hochland» bezeichnetes Gebiet. Diese Herkunft ist für das armenische Selbstverständnis bis heute wichtig geblieben.

Durch die Jahrhunderte haben die Armenier viele Spuren hinterlassen. Die 520 v. Chr. entstandene Behistun-Inschrift des persischen Grosskönigs Dareios I. berichtet mehrfach von «Armenien» und «Armeniern». Schon im Jahr 301 erklärten die Armenier das Christentum zu ihrer Nationalreligion, früher als jedes andere Volk. Zwischen 403 und 406 schuf der Mönch Mesrop Maschtoz das armenische Alphabet. Die Heilige Schrift wurde bereits 432 ins Armenische übersetzt. Sie hat zur Verbreitung und Festigung des Christentums geführt, denn Gottesdienste und Predigten konnten fortan in der Muttersprache abgehalten werden.

Bald kursierten armenische Übersetzungen syrischer und griechischer Handschriften, darunter das Neue Testament, aber auch Eusebius von Caesareas bedeutende «Kirchengeschichte» sowie dessen Konstantin-Biografie. Originäre Werke kamen hinzu, so Eznik von Kolbs «Widerlegung der Sekten» und Gregor von Nareks «Buch der Elegien», ein Meisterwerk der mittelalterlichen Literatur. Der Komponist Alfred Schnittke verarbeitete Teile davon 1984/1985 in seinem «Konzert für Chor».

Parallel dazu entstanden Sakralbauten. Statt der Feuertempel der heidnischen Zeit errichteten armenische Baumeister prächtige Kirchen und Klöster. Das bekannteste Beispiel, die Kirche zum Heiligen Kreuz auf der Insel Akdamar im ostanatolischen Vansee, gehört zum Unesco-Weltkulturerbe.

Armenische Mönche waren in der Spätantike und im Mittelalter fast überall anzutreffen, auch in Jerusalem, wo sie das Jakobus-Kloster gründeten. Die Armenische Kirche war anfänglich Teil der byzantinischen Reichskirche, doch der theologische Streit um die wahre Natur Christi führte zu Konflikten. Schliesslich trennte sich die Armenische Kirche im 6. Jahrhundert von der Reichskirche. Seither ist sie eine Nationalkirche, was sie nicht daran gehindert hat, heute ein aktives Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen zu sein.

Bildungshunger der Jugend
Eine weit in die Geschichte zurückreichende Vergangenheit, eine eigene Schrift, eine eigene Literatur, eine eigene nationale Kirche: Das alles trug zur Formung der «armenischen Identität» bei. Der Völkermord von 1915 sorgte zusätzlich für enormen emotionalen Kitt.

Lange Zeit blieben Kultur und Wissen das Privileg von wenigen, vornehmlich Geistlichen. Erst als die Sprachreform im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Altarmenische ablöste und die Volkssprache zur Literatursprache wurde, Zeitungen in dieser verständlichen Sprache erschienen (den Buchdruck kannten die Armenier seit 1512), Schulen – auch für Mädchen – selbst in entlegenen Provinzen gegründet wurden, konnte man von Bildung für alle sprechen.

Der Bildungshunger trieb junge Armenier aus dem Osmanischen Reich zum Studium nach Italien und vor allem Frankreich. Dort erlebten sie die Julirevolution von 1830 und die Februarrevolution von 1848, lernten die Texte von Rousseau und Voltaire kennen, im Original, aber auch dank den Übersetzungen der katholisch-armenischen Mönche des Mechitaristen-Ordens. Wieder zurück, setzten sie sich für eine Demokratisierung der armenischen Gemeinschaft ein.

Fortan hatten Vertreter des Bürgertums und nicht nur die Geistlichkeit und die mit dem Sultan verbandelten Honoratioren Mitsprache. Hinzu kam die Überzeugung, dass die Zustände in Ostanatolien dringend verbessert werden sollten. Doch der Völkermord von 1915 war das brutale Ende der armenischen Gemeinschaft im Osmanischen Reich.

Die Armenier im Kaukasus – dort herrschte seit dem frühen 19. Jahrhundert der russische Zar – waren vom Genozid nur mittelbar betroffen. Ihre Eliten hatten bevorzugt in Deutschland studiert. In der 1918 gegründeten kurzlebigen Republik Armenien und der nachfolgenden Sowjetrepublik Armenien nahmen viele von ihnen wichtige Positionen ein.

Aznavours herausragender Einsatz
Gerade seit der Gründung der unabhängigen Republik Armenien 1991 nimmt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Armenier konkretere Formen an. Ein erster Anlass war schon das verheerende Erdbeben vom Dezember 1988 und Charles Aznavours herausragender Einsatz zur Überwindung dieser Krise. Darauf folgten die humanitären Hilfen während der beiden Kriege um Bergkarabach (1992–1994, 2020), ebenso bei der jüngsten aserbaidschanischen Aggression im September 2022.

Doch der Karabach-Konflikt – ein Erbe der Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetunion und ihrer Beziehungen zur Republik Türkei – ist mittlerweile nicht mehr das einzige Sicherheitsproblem Armeniens. Ilham Älijew, Präsident des militärisch überlegenen Nachbarlandes Aserbaidschan, wiederholt immer wieder, dass nicht nur Karabach, sondern auch weite Teile der souveränen Republik Armenien zu Aserbaidschan gehörten. Er spricht davon, die durch Armenien getrennte «Welt der Turkvölker» einen zu wollen. Das hat die jungtürkische Partei Komitee für Einheit und Fortschritt vor über hundert Jahren auch gesagt!

Diese existenzielle Krise verlangt nach einer bestmöglichen Koordination der armenischen Diaspora. Die grosszügige Unterstützung durch erfolgreiche Armenier wie Moderna-Chef Noubar Afeyan ist dabei unersetzlich. Manches ist auf gutem Weg, aber angesichts der Gefahr ist eine deutliche Beschleunigung aller Bemühungen zum Schutz des armenischen Volks lebenswichtig.
 

Der Autor dieses Beitrages, Raffi Kantian, ist gebürtiger Armenier und Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft.

Originalbeitrag in der Weltwoche.


Die Weltwoche


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Sei der Erste, der kommentiert