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Hintergrundbericht

«Stig­ma­ti­sie­rung kos­tet Leben»: Arte zeigt bemer­kens­werte Doku über Suizid

In Deutsch­land ster­ben jeden Tag 25 Men­schen durch Sui­zid – in der Schweiz sind es täg­lich zwei bis drei Per­so­nen. Ab Sonn­tag, dem Welt­tag der Sui­zid­prä­ven­tion, ist in der Arte-​Mediathek ein Doku­men­tar­film zu die­sem viel­fach tabui­sier­ten Thema abrufbar.

Bei manchen liegt «es» Jahrzehnte zurück, bei anderen erst wenige Wochen. Alle ringen um Worte und mit den Tränen, wenn sie über das sprechen, was ihr Leben in ein Davor und ein Danach unterteilt hat: den Suizid einer nahestehenden Person. Sich das Leben zu nehmen, sei «immer ein egoistischer Akt», sagt eine Hinterbliebene in der Selbsthilfegruppe. Jemand widerspricht: Betroffene hätten «die absolute Verzweiflung» erlebt, ein Gefühl, «das wir nicht nachvollziehen können».

Dem Schmerz dieser Angehörigen widmet sich ein bemerkenswerter Dokumentarfilm ebenso wie Menschen, die rechtzeitig Hilfe fanden – und neuesten Erkenntnissen der Forschung. Arte zeigt den Beitrag am 30. September um 22.50 Uhr; ab diesem Sonntag, dem Welttag der Suizidprävention, ist er in der Mediathek zu sehen.

«Es tut immer unendlich weh»
Rund 800 000 Menschen sterben weltweit jedes Jahr durch Suizid. In Deutschland sind es über 9 000 und in der Schweiz laut neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2022 knapp unter 1 000. Die Dunkelziffer schätzen Fachleute deutlich höher, ebenso die Zahl der versuchten Selbsttötungen. Jeder kenne einen Betroffenen, ob im näheren oder weiteren Umfeld, sagt die französische Psychiaterin Emilie Olie im Film; ihre Dresdner Kollegin Ute Lewitzka ergänzt: Niemand könne ausschliessen, selbst suizidale Gedanken zu entwickeln – auch Menschen, die robust und stabil erscheinen, könnten an einen solchen Punkt kommen.

Hinzu kommt: Der Suizid eines Menschen verändere das Leben von rund 20 weiteren, haben Fachleute ausgerechnet. «Es tut immer unendlich weh», sagt ein Teilnehmer der Selbsthilfegruppe. Es ist eine Stärke der Doku, dass sie solche Zeugnisse für sich sprechen lässt, dass sie den Kummer zeigt, ohne aufdringlich zu wirken.

Ein weiterer Schwerpunkt der kompakten 50 Minuten liegt auf Fachleuten, die das schier Unerklärliche erläutern. John Mann beispielsweise untersucht in den USA Gehirne von Menschen, die mit psychischen Erkrankungen oder durch Suizid gestorben sind. Eine veränderte Hirnstruktur könnte demnach für das verantwortlich sein, was man alltagssprachlich als «Tunnelblick» beschreibt: Betroffene sehen kaum Hoffnung und Alternativen, nehmen die Welt bedrohlich und kritisch wahr.

Unterschiedliche Gründe für Suizide
Die Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass die menschlichen Gene nicht unveränderlich sind, wie man lange glaubte. Die Epigenetik untersucht, wie sie durch Erfahrungen verändert werden. Traumata oder Sucht spielen dafür eine Rolle, aber auch die Ernährung oder das Stresslevel. Der Psychologe Thomas Joiner spricht von einem Dreiklang, der suizidale Krisen entscheidend beeinflusse: die Wahrnehmung Betroffener, eine Last zu sein, ihr fehlendes Zugehörigkeitsgefühl und ihre sogenannte Suizidfähigkeit, also die Bereitschaft, Angst und Schmerzen in Kauf zu nehmen.

Suizidgedanken könnten sich über Monate entwickeln, ergänzt Lewitzka. Die letzte Zuspitzung, der entscheidende Entschluss erfolge jedoch in einem schmalen Zeitfenster, meist innerhalb von zehn Minuten. Um so wichtiger sei es, gefährdete Menschen zwischen diesem finalen Entschluss und der fatalen Handlung anzusprechen. Offene Gespräche über Suizidgedanken könne Suizide verhindern – auch wenn viele Menschen genau davor zurückschreckten.

Fast alle suizidgefährdeten Menschen signalisierten ihre Empfindungen von Hoffnungslosigkeit – entscheidend sei, dass jemand dies erkenne und einschreite. Stigmatisierung verhindere dagegen, dass Betroffene rechtzeitig Hilfe bekämen. Und sie belaste Hinterbliebene, mahnt die Psychiaterin: Das Verständnis, wenn jemand einen lieben Menschen bei einem Unfall oder durch schwere Krankheit verloren habe, sei ein ganz anderes.

Hoffnung machen in der Doku die Geschichten jener Menschen, die schwerste Krisen überwunden haben. Und der Blick ins nördliche Nachbarland: In Dänemark wurden nicht nur Brücken, Strassen und Hochhäuser gesichert, sondern auch der Zugang zu Waffen und bestimmten Medikamenten beschränkt. Plakate weisen im öffentlichen Raum auf Hilfsangebote hin, und schon in Kindergärten gibt es spielerische Ermutigung, mit schwierigen Emotionen offen umzugehen. Denn, so betont Olie: «Man kann helfen – psychologisch, medizinisch und sozial.»


KNA/Redaktion


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