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Hintergrundbericht

Suizidhilfe-​Zwang: Katho­li­sche Kir­che Thur­gau auf Tauchstation

Im Kan­ton Thur­gau for­dert eine Par­la­men­ta­ri­sche Initia­tive den Suizidhilfe-​Zwang für Pfle­ge­heime. Der Evan­ge­li­sche Kir­chen­rat des Kan­tons Thur­gau lehnt die­sen mas­si­ven Ein­griff in das insti­tu­tio­nelle Selbst­be­stim­mungs­recht von Pfle­ge­ein­rich­tun­gen ab, wird aber vom Katho­li­schen Kir­chen­rat im Stich gelassen.

Am 31. Oktober 2022 beschloss der Zürcher Kantonsrat, Alters- und Pflegeheime zu verpflichten, in ihren Räumlichkeiten die Suizidbeihilfe zuzulassen. Immerhin hiess der Kantonsrat mit 81:80 (!) Stimmen einen Zusatzantrag gut, demzufolge Pflegeheime ohne staatlichen Leistungsauftrag von dieser Pflicht ausgenommen sind. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Wer vom Staat kein Geld erhält, soll sich einen solchen massiven Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht gefallen lassen müssen. Personengemeinschaften in welcher Rechtsform auch immer, die sich religiösen Werten verpflichtet wissen, können sich gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ebenso wie Individuen auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen.

Ludwig Minelli, Gründer und Betreiber der Sterbetourismus-Organisation «Dignitas», der seit Jahrzehnten geradezu mit missionarischem Eifer für Suizidbeihilfe kämpft («Uns geht es darum, das Grundrecht auf Suizidhilfe weltweit durchzusetzen»), konnte sich mit diesem ebenso knappen wie demokratischen Entscheid partout nicht abfinden. Zusammen mit Exit und weiteren Suizidhilfe-Exponenten lancierte er eine Volksinitiative, die am 1. November 2023 der Staatskanzlei des Kantons Zürich übergeben wurde. Mit dieser Initiative sollen sämtliche Alters- und Pflegeheime gezwungen werden, Suizidbeihilfe in ihren Räumlichkeiten zuzulassen, gleichgültig, ob sie vom Staat subventioniert werden oder nicht. Als Lockvögel für diese von 13 000 Personen unterzeichnete Initiative dienten die Promis Viktor Giaccobo und Karl Lüönd.

Parlamentarische Initiative fordert Suizidhilfe-Zwang
Nun, am 28. Februar 2024, ist der Kanton Thurgau an der Reihe. Zur Beratung steht im Kantonsrat die Parlamentarische Initiative (PI) «Selbstbestimmung am Lebensende auch in Pflegeeinrichtungen». Die PI verlangt für alle Pflegeheime die Zulassung der Suizidhilfe. Der Zusatz «sofern der Betrieb dieser Einrichtungen mit öffentlichen Mitteln unterstützt wird», ist fiktional-deklaratorischer Natur, lässt sich doch im hochreglementierten Gesundheitswesen eine wie immer geartete (Mit-)Finanzierung durch die öffentliche Hand problemlos konstruieren. So jedenfalls ist es aus der Antwort des Regierungsrates vom 15. Februar 2024 auf diese PI zu schlussfolgern. Darin hält der Regierungsrat unmissverständlich fest: «Die Umsetzung der Parlamentarischen Initiative würde die gegenwärtige Autonomie der Pflegeeinrichtungen beenden und sie zwingen, assistierte Suizide zuzulassen. Auch könnten Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Thurgau nicht mehr in eine Pflegestation eintreten, in der der assistierte Suizid nicht zugelassen ist.» Der Regierungsrat gibt des weiteren u.a. zu bedenken: «Für das Pflegepersonal, das sein ganzes Engagement, Können und Herzblut in die Pflege und Betreuung der Menschen investiert, ist es schwierig, wenn sich ein Mensch trotz aller Pflege entscheidet, aktiv aus dem Leben zu scheiden. Das kann den Eindruck erwecken, versagt zu haben.»

Im Kanton Thurgau können aktuell bei über 60 % der rund 3 000 Pflegeplätze assistierte Suizide in Anspruch genommen werden. Die Wahlfreiheit, ein Pflegeheim auszuwählen, das den eigenen Wertvorstellungen entspricht, ist damit, so der Regierungsrat, gewährleistet. In der Tat ist bis dato kein Fall bekannt, dass eine Person wegen ihres Wunsches auf assistierten Suizid keinen Pflegeplatz erhalten hätte. In diesem Zusammenhang entscheidend ist, dass die Bevölkerung jederzeit Bescheid weiss, welche Pflegeeinrichtung assistierten Suizid anbietet. Im Kanton Thurgau herrscht diesbezüglich, so der Regierungsrat, «maximale Transparenz», denn Curaviva Thurgau gibt auf ihrer Website jederzeit Auskunft über den jeweils aktuellen Stand (www.curaviva-tg.ch/Alters-und-Pflegeheime/Transparenz-zur-organisierten-Sterbehilfe/PI8oKJ). Das von Curaviva Thurgau ausgearbeitete Konzept für die Palliative Care wird schweizweit als Musterkonzept angewendet. Darin wird jede Pflegeeinrichtung verpflichtet, schriftlich festzuhalten, ob sie sie Suizidorganisationen den Zutritt ermöglicht und welche Voraussetzungen dabei erfüllt sein müssen.

Im Jahre 2023 wurden im Kanton Thurgau 51 Todesfälle mit assistiertem Suizid erfasst, womit der Kanton leicht unter dem schweizerischen Durchschnitt liegt.

Klares Votum
Der Evangelische Kirchenrat des Kantons Thurgau nimmt diese Parlamentarische Initiative zum Anlass, die essentielle Thematik des assistierten Suizids einer vertieften Analyse zu unterziehen. Er knüpft an die Feststellung des Regierungsrates von dem alle Pflegeeinrichtungen erfassenden Suizidbeihilfe-Zwang an. In seinem an die Mitglieder des Kantonsrates gerichteten Schreiben vom 21. Februar 2024 wehrt sich der Evangelische Kirchenrat, so wörtlich, «gegen eine kantonale Regelung, welche alle Thurgauer Pflegeheime und Spitäler zwingt, in ihren Räumlichkeiten Sterbehilfe zuzulassen.» Der Evangelische Kirchenrat bejaht die Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen und äussert Verständnis, dass Menschen gegebenenfalls ihren Gesundheitszustand als unerträglich empfinden und deshalb einen assistierten Suizid in Anspruch nehmen wollen. Diese Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen bedingt aber – ganz im Sinne der Gleichberechtigung – auch eine institutionelle Selbstbestimmung von Pflegeinstitutionen. Gerade im Zeitalter der viel beschworenen Diversität soll es Pflegeeinrichtungen mit und ohne Suizidbeihilfe-Angebot geben. Die institutionelle Selbstbestimmung dient nicht zuletzt dem Schutz der persönlichen Überzeugungen jenes Teils des Pflegepersonals, der es mit seinem der Lebenserhaltung verpflichteten Berufsethos nicht vereinbaren kann, bei einem Suizid mitzuwirken. Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch die Belastungen, denen Angehörige von Sterbewilligen ausgesetzt sind und deren Betreuung ebenfalls dem Pflegepersonal obliegt.

Zudem lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sich Insassen von Pflegestationen mit der Möglichkeit zu assistiertem Suizid zumindest implizit einem starken Druck ausgesetzt sehen, sich selbst als Kostenfaktor wahrzunehmen. Dieser Druck triff aus ökonomischen oder gesundheitlichen Gründen ohnehin vulnerable Menschen in ganz besonderem Masse. Und genau solchen vulnerablen Patienten bieten Pflegeeinrichtungen ohne assistierten Suizid eine existentielle Alternative.

Das legitime Interesse, den Zeitpunkt des Lebens selbst zu bestimmen, darf nicht gegen das ebenso legitime Interesse einer Institution ausgespielt werden, selbst zu bestimmen, ob es assistierten Suizid anbieten will oder nicht.

Evangelische Landeskirche im Stich gelassen
Und wie reagiert der Kirchenrat der Katholischen Landeskirche Thurgau auf diese Parlamentarische Initiative?

Eigentlich liegt jetzt ein im besten Sinne ökumenischer Schulterschluss mit dem Kirchenrat der Evangelischen Landeskirche auf der Hand, hat dieser doch die christliche Perspektive zur Thematik der Suizidbeihilfe fundiert und schlüssig auf den Punkt gebracht. Doch weit gefehlt! Der Katholische Kirchenrat stiehlt sich vielmehr aus der Verantwortung, geht auf Tauchstation. Die von Cyrill Bischof, dem Präsidenten des Katholischen Kirchenrates, abgelieferte Begründung für den Verzicht auf eine offizielle Stellungnahme bzw. Mitunterzeichnung jener der Evangelischen Landeskirche ist einigermassen unterirdisch. Zum einen konstruiert Cyrill Bischof einen Gegensatz, eine Art Dilemma, zwischen dem «Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen und dem Recht der Pflegeinstitution»: Ein Pseudo-Gegensatz, denn nirgends ist ein Fall bekannt geworden, bei welchem einer pflegebedürftigen Person ein Pflegeplatz verweigert worden wäre, weil sie für sich die Möglichkeit eines assistierten Suizids ausbedingen wollte. Wenn überhaupt, würde ein Interessensgegensatz bestehen zwischen einer pflegebedürftigen Person, die in eine Institution mit Suizidhilfe-Möglichkeit eintreten möchte und einer pflegebedürftigen Person, die eine Institution ohne Suizidhilfe-Möglichkeit sucht.

Vollends ins Abseits manövrierte sich der Präsident des Katholischen Kirchenrates mit dem Hinweis, es müsse zuerst die anspruchsvolle Thematik des Umgangs mit der assistierten Suizidbeihilfe in der Gesellschaft breit diskutiert werden. Bingo! Würde der Präsident des Katholischen Kirchenrates dieses sein Argument wirklich ernst nehmen, müssten er und sein Kirchenrat vehement gegen diese Parlamentarische Initiative Stellung beziehen. Denn ist der Zwang zur Suizidbeihilfe für alle Pflegeeinrichtungen erst einmal gesetzlich festgeschrieben, wird die von ihm geforderte gesellschaftliche Debatte völlig obsolet.

Fazit: Die Nicht-Stellungnahme des Katholischen Kirchenrates Thurgau ist ein Armutszeugnis – in jeder Beziehung.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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Bemerkungen :

  • user
    Stefan Fleischer 27.02.2024 um 18:28
    Wieder ein Fall, in welchem sich eine so genannte Landeskirche als Institution begreift, welche sich dem Zeitgeist verpflichtet fühlt, und glaubt, Gott hätte abzusegnen, was sie als richtig und gut empfindet. Was beweist, dass solche Landeskirchen in keiner Art und Weise Kirche Gottes sind, sondern rein weltliche Konstruktionen sind, deren Ziel die Oberhoheit über die kirchlichen Finanzen ist.