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Kirche Schweiz

Von der ret­ten­den Planke bis zum Heilszeichen

Seit 2014 lädt der «Freun­des­kreis Hans Urs von Bal­tha­sar» zu den «Ein­sied­ler Advents­ein­kehr­tage» ein. Die­ses Jahr konnte er mit Prof. Dr. Jan-​Heiner Tück einen pro­fi­lier­ten Refe­ren­ten gewin­nen. Die­ser sprach zum Thema «Crux. Über die ret­tende und erlö­sende Kraft des Kreu­zes – Annäherungen».

Das Kloster Einsiedeln mit seinem eindrücklichen barocken Saal bildete einen würdigen Rahmen für die diesjährigen «Einsiedler Adventseinkehrtage». Das erste Referat1 von Prof. Dr. Jan-Heiner Tück2 führte die Zuhörenden zurück in die Antike, um von dort aus das Kreuz zu erschliessen.

Die Kirchenväter haben öfters Mythen rezipiert, um das Evangelium in die hellenistische Kultur zu übersetzen. Ein besonderes Interesse galt dem Mythos von Odysseus: Im zwölften Gesang der Odyssee kündigt die Göttin Kirke dem Seefahrer die Gefahren der weiteren Schifffahrt an. Zwei Herausforderungen werde er zu bestehen haben, zuerst den betörenden Gesang der Sirenen, dann die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis. Die Göttin empfiehlt Odysseus, die Ohren seiner Gefährten mit Wachs zu verstopfen, damit sie den verführerischen Gesang erst gar nicht hören. Wenn er selbst eine Ausnahme machen wolle, so solle er sich an den Mast des Schiffes binden lassen. So könne er der todbringenden Verlockung entgehen.

In ihren Interpretationen bezogen die Kirchenväter das Meer auf die Welt, das Schiff auf die Kirche und den Mast auf das Kreuz. In der allegorischen Lesart wird der an den Mast gebundene Odysseus auf den Christen bezogen, der sich mit Christus freiwillig an das Holz des Kreuzes binden lässt, um die Gefährdungen der Zeit zu bestehen und die ewige Heimat zu erreichen. Im Gesang der Sirenen sehen die Kirchenväter in erster Linie «die vielfältigen Verlockungen der Weltlust, denen der Mensch auf seiner Reise nicht erliegen darf, wenn er den Hafen des Heils erreichen will.»
Ambrosius von Mailand (339–397) greift den ästhetischen Reiz der Sirenen positiv auf, um ihn dann christlich zu überbieten. «Mag der Gesang der Sirenen bezaubern, die Schönheit des christlichen Glaubens bezaubert noch mehr! […]. Nicht schliessen, sondern öffnen soll man die Ohren, um Christi Stimme zu hören, denn wer sie vernimmt, braucht nicht Schiffbruch zu fürchten […].»3

In seinem Vortrag führte Jan-Heiner Tück aus, wie Dante Alighieri (1265–1321) in seiner «Divina Commedia» das Odysseus-Bild umdeutet und «aus dem Helden einen schiffbrüchigen Versager werden lässt, der wegen seiner ungezügelten Neugierde im Inferno landet». In seinem Stück «Der seidene Schuh» nimmt Paul Claudel (1868–1955) diesen Gedanken auf. «Nach der Religionskritik durch Feuerbach, Marx und Nietzsche droht der Glaube des Gläubigen im Salzwasser des Zweifels unterzugehen. Kann der homo viator nach der Proklamation des Todes Gottes weiterhin auf Gott setzen?», fragte Tück.
In der Eröffnungsszene von Claudels Stück ist das Wrack eines Schiffes zu sehen, das führungslos auf den Wogen treibt. An den Stumpf des zerstörten Mastes ist ein Jesuitenpater gefesselt, der allein durch den Ozean treibt. Die Besatzung durch Seeräuber ermordet, kein Land in Sicht. Der gefesselte Priester nimmt sein Schicksal an: «Herr, ich danke dir, dass du mich so gefesselt hast. […] Und so bin ich wirklich ans Kreuz geheftet, das Kreuz aber, an dem ich hänge, ist an nichts mehr geheftet. Es treibt auf dem Meere.»4 Claudels Szene zeige die radikale Fraglichkeit des Glaubens heute, dem alle Sicherheiten zerronnen sind, aber auch die Fraglichkeit des Unglaubens, der seinerseits ins Schwimmen geraten ist und kein sicheres Fundament mehr hat. Und Tück zitiert Joseph Ratzinger: «Nur ein loser Balken knüpft ihn an Gott, aber am Ende weiss er, dass dieses Holz stärker ist als das Nichts, das unter ihm brodelt, das aber dennoch die bedrohende, eigentliche Macht seiner Gegenwart bleibt.»5

Die Erste Vesper des Ersten Adventssonntages mit der Klostergemeinschaft stimmte die Teilnehmenden in den Advent ein. Im Gebet durften sie die christliche Hoffnung, von der im Vortrag die Rede war, konkret erfahren.
 

Im zweiten Referat wechselte Prof. Tück von den Mythen zu den griechischen Tragödien. Verschiedene griechische Tragödien behandeln den freiwilligen Opfertod einer Person, die für das Vaterland oder für das Leben eines Freundes stirbt. Hans Urs von Balthasar (1905–1988) warf die Frage auf, ob für die Kirchenväter das Gespräch mit den griechischen Tragikern nicht ebenso fruchtbar gewesen wäre wie mit den unterschiedlichen Schulen der hellenistischen Philosophie. Jan-Heiner Tück zeigte das Potenzial eines solch versäumten Gesprächs exemplarisch an «Alkestis» des Euripides auf.

Admet, der König von Thessalien, soll sterben; so haben es die Moiren (Schicksalsgöttinnen) bestimmt. Durch eine List Apollons kann sein Tod aufgeschoben werden – allerdings nur, wenn ein anderer bereit ist, an seiner Stelle zu sterben. Weder die betagten Eltern noch einer seiner Freunde ist dazu bereit. Nur seiner jungen Frau Alkestis ist sein Leben wichtiger als ihr eigenes; sie will ohne ihren geliebten Mann nicht leben. Am Tag ihres Todes kommt der Held Herakles in das Trauerhaus. Als er vom Geschick der Alkestis erfährt, ist er sehr betroffen und wagt aus Mitgefühl das Äusserste: Er versteckt sich beim Grab der Alkestis und als Thanatos, der personifizierte Tod, erscheint, jagt er dem Tod in einem dramatischen Ringkampf seine Beute wieder ab. Die zwei erkennbaren Motivstränge der Selbstopferung und des heroischen Kampfs mit dem Tod sind in «Alkestis» noch nicht verbunden: «[…] die Lebensrettung durch den stellvertretenden Liebestod und der mythische Heldenkampf mit dem Tod, dem seine Beute entrissen wird: Sieg über den Tod durch reine Passion und höchste Aktion: erst in Christus werden die beiden Motive nahtlos zusammenfallen»6, notiert Balthasar.
Tück wies auf weitere Unterschiede zum Kreuzestod Jesu hin: «Herakles vermag durch seinen wagemutigen Einsatz für einmal einen Menschen aus dem Reich des Todes zu retten, während dem Kreuzestod Jesu Christi für alle Zeiten universale Bedeutung zugesprochen wird. Alkestis, dem Hades entronnen, kann weiterleben, wird aber erneut sterben müssen; die österliche Überwindung des Todes aber gewährt Anteil an einem Leben, das keinen Tod mehr kennt.»
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Schuld. Der Gekreuzigte tritt in seinem Sterben an die Stelle der schuldiggewordenen Person, damit diese am Ort der sündigen Gottesferne sich ihrer Schuld stellen kann. Doch was ist, wenn die Sünderin, der Sünder das Liebesangebot Gottes ablehnt? Hans Urs von Balthasar schrieb dazu: «Der Sünder, der von Gott weg verdammt sein will, findet in seiner Einsamkeit Gott wieder, aber Gott in der absoluten Ohnmacht der Liebe, der sich unabsehbar in der Nicht-Zeit mit dem sich Verdammenden solidarisiert.»7

Nach dem Vortrag vertieften die Teilnehmenden das Gehörte während des gemeinsamen Abendessens. Den Abschluss des Tages bildete die Komplet mit einem marianischen Impuls durch den Referenten und einer Zeit der stillen Anbetung.
 

Der zweite Tag begann mit dem Besuch des feierlichen Konventamtes in der Klosterkirche. So gestärkt versammelten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder im barocken Saal, um das dritte Referat von Jan-Heiner Tück zu hören.

Im letzten Referat wandte sich Prof. Tück dem vierten Lied vom Gottesknecht (vgl. Jes 52,13–53,12) zu, der messianisch auf Jesus hin gelesen wird. Der Referent richtete den Blick der Zuhörer auf einen «epistemischen Bruch», eine einschneidende Erkenntniswende: «Alle richten sich gegen den einen und glauben, dass das richtig ist. Dann richten sich alle gegen sich selbst, weil sie erkannt haben, dass es falsch war, sich gegen den einen gerichtet zu haben! Denn dieser hat für alle etwas getan, was diese offensichtlich nicht selbst tun konnten.»
Nach einem Exkurs über den französischen Kulturanthropologen René Girard (1923-2015), der diesen Sündenbockmechanismus in seinen Werken beschrieb, warnt Tück: Die Erlösung besteht nun nicht darin, den Sündenbockmechanismus zu durchschauen und daraus «auszusteigen». Erlösung «ist die Folge des Glaubens an die rettende und versöhnende Macht der Offenbarung.» Die Offenbarung ist aber kein einzelner Moment in der Geschichte. Gott heilt die durch Sünde und Schuld deformierte Schöpfung, indem der gerechte Gott selbst an die Seite der Bedrängten und Armen tritt und die Sünder zur Umkehr ruft. «In Jesus Christus aber tritt er so an die Stelle der erlösungsbedürftigen Menschen, dass er die entwürdigten Opfer von Gewalt aufsucht, um sie in ihrer Würde aufzurichten. Zugleich tritt er an die Stelle der Täter, um ihnen am Ort der sündigen Gottverlassenheit neu Gemeinschaft mit Gott zu ermöglichen […] Die mimetische Gewalt – alle gegen einen – wird durch die Passion durchkreuzt, die als Akt der freien Hingabe – einer für alle – zu lesen ist.»

Der Leitungsbeauftragte des Freundeskreises, Dr. Pius Kölbener, konnte am Sonntagmittag auf eine gelungene Tagung zurückschauen. Er nutzte die Gelegenheit, dem geistlichen Berater P. Dr. Hans Schaller SJ zu drei Jubiläen zu gratulieren, die dieser in diesem Jahr feiern konnte: 80. Geburtstag, 60 Jahre Jesuit und 50 Jahre Priester.
 

Der «Freundeskreis Hans Urs von Balthasar» übernimmt seit 2014 die Organisation und Durchführung der «Einsiedler Adventseinkehrtage», an denen zentrale Fragen des Glaubens und des Lebens im Geiste Hans Urs von Balthasars aufgriffen und geistige Impulse vermittelt werden. Diese Tagung wurde früher von der Akademischen Arbeitsgemeinschaft (AAG) – hervorgegangen aus der 1941 von Hans Urs von Balthasar und Robert Rast gegründeten Studentischen Schulungsgemeinschaft (SG) – koordiniert.

 


1 Die Referate können nur sehr verkürzt wiedergegeben werden. Sie finden diese bald in voller Länge auf der Webseite des Freundeskreises Hans Urs von Balthasar. Die ersten beiden Vorträge sind – wie auch die Komplet mit dem Impuls des Referenten – als Podcasts bei Radio Maria aufgeschaltet.
2 Prof. Dr. Jan-Heiner Tück studierte Theologie und Germanistik in Tübingen und München. Seit 2009 ist er Professor für Dogmatische Theologie an der Universität Wien. Er ist Schriftleiter der Zeitschrift «Communio» und freier Mitarbeiter bei der NZZ.
3 Ambrosius, Expositio evangelii secundum Lucam, IV, 2 (= BKV I 21, 159).
4 Paul Claudel, Der seidene Schuh. Übersetzt von Hans Urs von Balthasar, Salzburg 1953, 16.
5 Joseph Ratzinger, Einführung ins Christentum. Neuausgabe, München 2000, 37f.
6 Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. III/1: Im Raum der Metaphysik, Teil 1: Altertum, Einsiedeln 1965, 132.
7 Hans Urs von Balthasar, Über Stellvertretung, in: ders. Pneuma und Institution, Einsiedeln 1960, 408.


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin.


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