Symbolbild. (Bild: Gaelle Marcel/Unsplash)

Hintergrundbericht

«Wir ver­lie­ren unsere Kinder»

Gewalt, Por­no­gra­fie, Fake­news: Die Schul­lei­te­rin und Auto­rin Silke Mül­ler beschreibt in ihrem neuen Buch, welch bei­spiel­lo­ser Ver­ro­hung Kin­der und Jugend­li­che heute im Netz nahezu unge­fil­tert aus­ge­setzt sind.

Frau Müller, Eltern und Lehrer scheinen oft keine Vorstellung davon zu haben, was Kinder tagtäglich auf ihren Smartphones zu sehen bekommen.
Genau deshalb habe ich mich dafür entschieden, mit sehr expliziten Beispielen aus dem Alltag an meiner Schule an die Öffentlichkeit zu gehen. Das war keine leichte Entscheidung, denn die Dinge, die millionenfach im Netz herumgeistern und auch an die Kinder gelangen – ich spreche von Videos, in denen Tiere gequält und Menschen vergewaltigt oder gefoltert werden –, können auch uns Erwachsene ganz schön erschüttern. Folter, Gewalt, Rassismus, Pornografie, mit diesen Schlagwörtern können wir zwar etwas anfangen, aber meistens ist uns doch nicht klar, was man da glasklar, schonungslos und ungefiltert über die sozialen Medien zu Gesicht bekommen kann. Das übersteigt oft eigentlich das, was man aushalten kann. Doch genau diese Betroffenheit braucht es, um gesamtgesellschaftlich ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wo wir unsere Kinder jetzt gerade hineinlaufen lassen. Denn das mangelnde Bewusstsein für die wirklichen Gefahren im Netz führt dazu, dass man Kindern recht früh ein Smartphone in die Hand drückt und es relativ unbedarft lässt, was die Gefahren angeht. Das ist ungefähr so, wie wenn ich mein Kind auf ein Rennpferd setze und ihm sage: «Galoppier mal los!», obwohl es noch keine einzige Reitstunde hatte. Gleichzeitig fahren wir unsere Kinder täglich mit dem Auto zur Schule und setzen sie am liebsten auch noch ins Klassenzimmer, aus Angst, dass ihnen etwas passiert. Wir meinen, es sei ja «nur» die digitale Welt, deren Gefahren im Vergleich zur «wirklichen» Welt begrenzt seien. Dabei macht diese Trennung zwischen «realer» und «digitaler» Welt heute keinen Sinn mehr, denn die sozialen Netzwerke sind schon längst zu einem festen Bestandteil der kindlichen Lebenswelt geworden. Schliesslich haben wir Erwachsenen dafür gesorgt, dass unsere Kinder von klein auf mit den Bildschirmen aufwachsen.

Neben grausigen Inhalten gibt es auch noch die sozialen Medien an sich, in denen Kinder Akteure sind.
Mir machen besonders jene Inhalte Sorgen, an denen Kinder selbst beteiligt sind, entweder als Opfer oder als Täter. Kinder werden Opfer von Cybermobbing, zum Beispiel über Fake-Accounts, auf denen sich über ein bestimmtes Kind lustig gemacht wird. Beim Cyber-Grooming sprechen (meist) erwachsene Männer Kinder im Netz an, oft über die Chats von Online-Spielen, um sexuelle Kontakte anzubahnen. Wir als Lehrer haben das bereits ausprobiert, uns auf bestimmten Plattformen als 12- bis 13-jähriges Mädchen auszugeben. Es dauerte keine drei Minuten, da bekamen wir die ersten Kontaktanfragen von erwachsenen Männern. Ich musste im Laufe der Zeit aber mit Schrecken feststellen, dass Kinder oft selbst sehr provokativ im Netz unterwegs sind. In meinem Buch schildere ich zum Beispiel den Fall einer Challenge, bei der sich 13- und 14-jährige Mädels auf einer Chat-Plattform als etwas ältere Teenager ausgeben, mit dem Ziel, mit erwachsenen Männern in Kontakt zu treten und sie so lange zu provozieren, bis sie das Bild eines erigierten Penis schicken. Da fragt man sich: Wo kommt bei den Kindern diese Verrohung her, diese unglaubliche Gleichgültigkeit, und übrigens auch diese sexualisierte Sprache und ein detailliertes Vokabular zu sexuellen Praktiken? Der Gedanke, dass zu Sexualität Intimität gehört, ist da offensichtlich verloren gegangen. Das macht mir grosse Angst.

Welche psychischen Folgen stellen Sie bei den betroffenen Kindern fest?
Es gibt die Kinder, die, wenn sie mit bestimmten Inhalten konfrontiert wurden, schockiert zu uns kommen. Wir haben dafür in der Schule seit einiger Zeit extra eine Social Media-Sprechstunde eingerichtet. Mit Kindern, die zeigen, dass sie von etwas belastet werden, kann man am besten arbeiten und dabei Eltern und Sozialpädagogen einbinden. Alles was sichtbar ist, können wir begleiten. Sorgen machen mir die Kinder, die nichts erzählen, die sich heimlich mit ihrem Handy in ihr Kinderzimmer verziehen und dann diese Dinge in ihre eigene kleine seelische Welt mitnehmen, die sehr verletzlich sind. Das sind oft Kinder, die vielleicht einen schlechten Kontakt zu ihren Eltern haben. Es kann aber auch die Kinder der Eltern betreffen, die davon überzeugt sind, dass «unser Kind sowas nicht macht». Ein gefährlicher Satz, denn genau diese Kinder trauen sich vielleicht nicht, zu ihren Eltern zu gehen, weil sie sie nicht enttäuschen und keinen Ärger wollen.

Sie wehren sich gegen die Ansicht, die Digitalisierung selbst sei das Problem.

Problematisch ist nicht die Technik an sich, sondern deren Nutzer. Ein Smartphone kann ein grossartiges Arbeits-, Informations- und Unterhaltungsgerät sein und Menschen miteinander verbinden, wenn man gelernt hat, richtig damit umzugehen. Den Zugang dazu für Kinder komplett zu verbieten, halte ich daher nicht für den richtigen Weg. Problematisch sind eben die Inhalte, die Erwachsene im Netz zur Verfügung stellen. Damit ebnen Erwachsene im Netz Wege, die Kinder nur noch nachfolgen müssen. Dabei haben sie leider selten Orientierung an guten Vorbildern.

Sagt es denn nicht bereits etwas über den moralischen Stand unserer Gesellschaft aus, dass bestimmte Medien, zum Beispiel TikTok, überhaupt entstehen und einen derartigen Erfolg haben?
Absolut. Man kann Medium und Inhalt nicht wirklich voneinander trennen. Hinter all diesen Plattformen und sozialen Medien steht ein kommerzieller Gedanke, der mit tiefenpsychologischen Mitteln arbeitet, um die Leute anzuziehen und möglichst lange zu halten. Wenn man sich einmal klarmacht, welche Mechanismen dahinterstehen, die uns abhängig machen wollen, muss man sich schon fragen, wie blöd wir eigentlich sind, dass wir uns darauf einlassen. Aber die sozialen Medien befriedigen den Drang dieser narzisstischen Gesellschaft nach Selbstdarstellung. Man kann natürlich nach Henne und Ei fragen, aber auf jeden Fall verbindet sich beides – eine narzisstische Gesellschaft und Plattformen, die der Selbstdarstellung dienen – ganz grossartig miteinander. Für unsere Kinder ist es heute extrem wichtig, viele «Likes» zu bekommen und «Follower» zu haben und sie sind offensichtlich zu ziemlich vielem bereit, um beides zu bekommen. Das ist ein Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft schon vor langer Zeit moralisch falsch abgebogen ist.

Nämlich wohin?
Uns Erwachsenen ist es nicht gelungen, Werte und Normen für friedliches Miteinander im Netz auszuhandeln. Ob es um Klassenregeln geht oder um Compliance-Regeln in einem grossen Unternehmen, überall, wo Menschen aufeinandertreffen, gibt es Konventionen, Absprachen, Regelungen. Im Netz haben wir das einfach laufen lassen und uns gefreut, einen Raum zu haben, in dem wir uns komplett wertfrei austoben können. Eigentlich müsste man einen Reset-Knopf drücken und das Internet noch einmal neu machen (lacht). Das Mindestmass wäre, dass man sich in den sozialen Medien nur mit einem Ausweis anmelden und daher nicht anonym sein kann. Das würde schon viele Probleme eindämmen. Vielleicht müsste man auch einmal fragen, wann Zensur hilfreich sein kann, um vor gefährdenden und psychisch beeinflussenden Inhalten zu schützen.

Deswegen schreiben Sie, es reiche nicht, wenn die Schule Medienkompetenz vermittele; es sei eine digitale Ethik notwendig. Was meinen Sie damit?
Wenn ein neues Problem auftaucht, fordern manche immer schnell ein neues Unterrichtsfach. Aber erstens haben wir in den Lehrplänen schlicht und einfach keinen Platz mehr – da müsste man einmal über eine Entfrachtung nachdenken oder grundsätzlich schauen, wie man im Schulalltag projektorientierter statt in Fächer unterteilt arbeitet. Und zweitens sind Medienkunde und digitale Skills mittlerweile gut in den bestehenden Fächern verankert. Wir haben auch Schulungen zu Medienrecht und Prävention und wenn ich jetzt raus auf den Schulhof gehe und eine Stichprobe mache, werden die Kinder meine Fragen zu den Inhalten richtig beantworten. Das Problem ist nicht mangelndes Wissen über den Umgang mit der Technik oder das, was strafrechtlich relevant ist. Das Problem sind mangelnde Empathie und persönliche Betroffenheit! Was macht das mit dem Anderen, wenn ich dies oder das im Netz tue? Da sind wir im Bereich der Ethik. Und daran müssen wir mit den Schülern arbeiten, um diese Betroffenheit zu schaffen und zum Nachdenken zu bewegen.

Wenn ein zwölfjähriges Kind Nacktbilder von sich selbst an Fremde schickt, ist dann nicht in der vormedialen Erziehung zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität bereits einiges schiefgelaufen?

Mit Sicherheit. Zwar haben wir auf der einen Seite eine übersexualisierte Gesellschaft. Im Gegensatz dazu fürchte ich, dass vielerorts zuhause gar nicht mehr über den Wert von Sexualität und Intimität gesprochen wird. Wenn Kinder dann auch noch mitbekommen, dass auch die Männer im Fussballclub sich Bilder von barbusigen Frauen hin- und herschicken, dann muss man sich nicht wundern, wenn der Wert von Sexualität dann irgendwann keiner mehr ist.

Sie plädieren dafür, dass Kinder erst ab 14 Jahren ein eigenes Smartphone erhalten. Wie müsste eine gute Vorbereitung der Kinder auf die Nutzung des Internets und der sozialen Medien aussehen?
Es ginge darum, die Zeit fernab der Bildschirme dazu zu nutzen, Kindern die nötigen Fähigkeiten mitzugeben, um sicher im digitalen Raum zu navigieren. Der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder nimmt aus Sicht der Entwicklungspsychologie irgendwann zwischen acht und zehn Jahren zugunsten des Einflusses der Peergroups ab. Wenn man die Zeit davor unmedial nutzt, um dem Kind Werte, Empathie, Resilienz und auch ein gesundes Abwehrverhalten mitzugeben, dann hat man an dieser Stelle schon viel gewonnen. Ausserdem glaube ich, dass Eltern sich selbst erst einmal im digitalen Raum fit machen müssen, bevor sie das Handy aus der Hand geben. Dazu braucht man nicht jedes einzelne soziale Netzwerk zu kennen, aber sollte wenigstens deren Logik verstehen. Dazu gehört auch, sich mal selbst mit der Altersangabe 13 anzumelden und zu schauen, was mir da alles in die Timeline gespielt wird und wer mich da so kontaktiert. Ausserdem meine ich, Eltern müssen ihren Kindern klare Regeln geben. Zum Beispiel, dass das Handy im Kinderzimmer nichts zu suchen hat und abends um 20 Uhr bei den Eltern abgegeben wird. Dass man sich einmal in der Woche gemeinsam mit seinem Kind den Klassenchat und die Bildergalerie vornimmt und gemeinsam über die Inhalte spricht.

«Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts», zitieren Sie gerne in Ihrem Buch.
Das Zitat sagt einfach alles, schon seit Jahrhunderten. Ich erlebe aber, dass Eltern oft nicht mehr bereit sind, wirklich zu erziehen, in dem Sinne, dass man sich da manchmal auch auf Konfrontationen mit dem Kind einlassen muss. Das ist verantwortliche Liebe, nämlich das Kind zu beschützen und ihm den Weg zeigen, auch wenn es das gerade nicht einsieht. Diesen Kampf einzugehen, gerade in Bezug auf die Medien, das machen viele leider nicht mehr.

 

Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und seit 2021 erste Digitalbotschafterin ihres Landes. Mit ihrem neuen Buch klärt sie Eltern, Lehrer und die Politik darüber auf, mit welch schockierenden Inhalten Kinder konfrontiert sind, die unkontrolliert Zugang zu einem Smartphone haben.

Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder! Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat. Verlag Droemer, München 2023, 224 Seiten, ISBN 978-3-426-46646-9.

 

Originalbeitrag in «Die Tagespost»


Die Tagespost


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