Notker Wolf. (Bild: © Br Cassian Jakobs, Erzabtei St Ottilien)

Kommentar

Zum Tod von Not­ker Wolf – Mönch, Erz­abt, Abt­pri­mas. Ein Nach­ruf von P. Mar­kus Muff

Not­ker Wolf ist in der Nacht vom 2. auf den 3. April 2024 auf einer Rück­reise von Ita­lien in sein Hei­mat­klos­ter St. Otti­lien im 83. Lebens­jahr verstorben.

Von einer schweren Krankheit war nichts bekannt, auch nicht von einem Unfall.
Notker Wolf war einmal mehr mit einer Gruppe von Pilgern aus Deutschland unterwegs; sie besuchten die benediktinischen Stätten in Italien. Allen voran den Geburtsort des heiligen Benedikt – das umbrische Städtchen Nursia. Bei den nachfolgenden Orten konnte Wolf nicht mehr als Geistlicher Begleiter die Pilgergruppe führen – er hatte sich bereits an Ostern nicht wohl gefühlt und zeigte Erkältungssymptome, wollte die Pilgerreise jedoch nicht absagen. In Subiaco waren die Pilger auf einen mitreisenden Monsignore angewiesen, der zusammen mit der Gruppe die Eucharistie in Subiaco feierte.

Eine Teilnehmerin schreibt aus Subiaco: «Wir waren alle sehr geschockt, als wir von St. Ottilien die Todesnachricht erhielten. Gestern haben wir noch zusammen mit ihm im Hotel gefrühstückt. Er konnte allerdings unsere Pilgerreise nicht weiter begleiten. Es ist sehr dramatisch ...».

Auf dem Flug von Florenz über Frankfurt nach München erreichte er den Anschlussflug nicht und musste die Nacht im Hotel verbringen. Dort kam es zu einem akuten Herzversagen mit tödlichem Ausgang. Am nächsten Morgen mussten die Verantwortlichen die traurige Nachricht vom Tod von Abtprimas em. Notker Wolf entgegennehmen.

Unzählige Reisen – wie diese letzte – prägten die vergangenen Jahrzehnte von Notker Wolf. Der oberste Repräsentant der Benediktiner war ständig unterwegs, oder besser gesagt, ständig im Flugzeug. Selten tat er dies, um an einem abgelegenen Ort Kraft zu tanken. Die allermeisten Reisen waren Dienstreisen – rund um den Globus, wie Notker immer wieder betonte.

Anders als ein Bischof, der für eine regional definierte Diözese zuständig ist, trug Notker Wolf – wie er gerne hervorstrich – die Verantwortung für die rund 800 benediktinischen Gemeinschaften in aller Welt. In allen fünf Kontinenten sind die Benediktiner mit ihren Klöstern vertreten; rund 200 Schulen und ein gutes Dutzend Universitäten gehören zum «Portefeuille» der repräsentativen Aufgaben, die sich Notker Wolf zu Herzen nahm.

Wolf war sich sehr bewusst, dass er kein Generalabt war. Über die allermeisten Abteien hatte er keine Entscheidungsgewalt – die wenigen Ausnahmen waren eher eine Last. Die Benediktiner hatten sich dem Ansinnen des Papstes Leo XIII. nicht gefügt, als er Ende des 19. Jahrhunderts aus den Benediktinern einen veritablen Orden machen wollte. Als eine Art Kompromiss wurde die Figur des Abtprimas der Benediktiner mit Sitz in Sant’Anselmo in Rom geschaffen. Notker Wolf erhielt im Jahr 2000 von den Äbten aller Männerklöster dieses Mandat und übte es mit grossem Engagement aus. Noch einmal: Er nahm sich die einzelnen Klöster, die einzelnen Nonnen, Schwestern und Mönche zu Herzen. Er mochte die Menschen und war für alle ansprechbar.

Meist bezeichnete er sich als sein eigener Sekretär – und das nicht nur, wenn ausserhalb der Bürozeiten seine Mitarbeiter in der Kurie bereits den Schreibtisch verlassen hatten. Als Erzabt und Abtprimas hielt er die Hierarchie so flach wie möglich; er konnte sich auf seine Mitarbeiter und Mitbrüder verlassen und wusste doch in der Sache, wovon er sprach – denn er brachte sich unter allen Umständen persönlich ein.

Leo XIII. prägte den italienischen Satz: Voi Benedettini «non siete un Ordine, ma siete un disordine». Notker Wolf zitierte dieses Bonmot gerne. Nach päpstlicher Lesart sind die Benediktiner kein (wohl geordneter) Orden, sondern aus kirchlich-bürokratischer Sicht eher eine Unordnung! Da passte Notker Wolf gut hinein – in eine Art Feldlazarett, wie es der jetzige Papst Franziskus als einen wesentlichen Aspekt der Katholischen Kirche sieht.
In einem Feldlazarett kann es kaum bürokratisch und ordentlich zugehen – da muss improvisiert werden, da müssen Einsätze geflogen, Menschen versorgt und Medikamente besorgt werden. Das Bild eines Feldlazaretts trifft die Situation, in der sich Wolf befand, besser. Nicht die einzelnen Klöster sind in Unordnung, sondern die globale Organisation der Benediktiner ist eben kein Top-Down-System und daher eher langsam in der Entscheidungsfindung; berechtigte Widerstände können nicht einfach wegbefohlen werden. Die Entscheidungen, die ein Abtprimas treffen will, sind kaum je alternativlos ... Diese administrative Ohnmacht ist ein häufiges Thema in den vielen Büchern, die Notker Wolf zusammen mit seinen verschiedenen Mitarbeitenden verfasst hat. Und sie war fast tägliche Erfahrung in den 16 Jahren, in denen Notker Wolf das Amt des Abtprimas ausübte.

Tatsächlich war das Jahr 2000 kein Höhepunkt in der Geschichte der «Badia Primaziale di Sant’Anselmo» auf dem Aventin in Rom. Die Benediktineräbte aus aller Welt hatten sich zum ordentlichen Kongress versammelt und bedrängten Notker Wolf geradezu, das höchste repräsentative Amt der Benediktiner zu übernehmen: eben das Amt des Abtprimas. Dieses Amt ist alles andere als ein glanzvoller Chefposten!

Wolf selbst, aber auch die Mitbrüder der Kongregation von St. Ottilien waren nicht besonders glücklich darüber, dass der weltgewandte Erzabt eine neue Aufgabe in Rom übernehmen sollte. Doch am Ende blieb der Wunsch der rund 250 Äbte kein Desiderat – Notker Wolf wurde mit beeindruckender Mehrheit zum Abtprimas gewählt. Auch in späteren Wahlgängen (2008 sowie 2012) blieben vereinzelte Mitbewerber weit abgeschlagen.

Stolz war Notker Wolf immer darauf, dass diese Wahl keiner Bestätigung durch den Vatikan oder gar durch den Papst selbst bedurfte; die geradezu basisdemokratische Wahl durch die aus aller Welt angereisten Äbte war ihm Auftrag genug. Diese Wahl war ihm eine weitere Legitimation, nicht nach höheren Weihen und Ämtern in der Kirche zu streben. Nicht selten vergessen Kleriker ihren Auftrag und nutzen jede sich bietende Gelegenheit, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern – zumindest ab einer gewissen Weihestufe scheint dies keine Seltenheit zu sein. Wolf kommentierte solche Haltungen stets schelmisch: «Und ist das Mönchlein noch so klein, so möcht’ es doch gern ein Äbtlein sein». Diese Haltung war ihm nicht nur bei Mönchen aufgefallen!

Vor seiner Zeit in Rom war Notker Wolf 23 Jahre lang als Nachfolger von Viktor Josef Dammertz Erzabt von St. Ottilien. In dieser Funktion war er auch Abtpräses der Kongregation der Missionsbenediktiner von St. Ottilien. Diese Kongregation umfasste im Jahr 2023 die stolze Zahl von 23 Klöstern auf vier Kontinenten. Europa, Afrika, Asien, Nord- und Südamerika waren schon damals die Gebiete, die der Erzabt bereisen musste, um die Klostergemeinschaften zu besuchen, ihnen zuzuhören, sie zu beraten und zu ermutigen. Nie trat Notker als der grosse Besserwisser auf, nie wurde er als kleinlicher Kontrolleur aus der fernen Zentrale in St. Ottilien wahrgenommen.
Notker Wolf verstand sich weder als Mitglied einer Trojka noch als Richter. Das möglicherweise pompöse Auftreten eines kleinlichen Visitators war ihm stets ein Gräuel.

Notker Wolfs Selbstverständnis war eher das eines Ermöglichers, eines nicht unkritischen Begleiters und eines umsichtigen Hirten. Die Schafe müssen selbst weiden – die Aufgabe des Hirten ist es, sie nicht zu überfordern – so klang ihm immer wieder die Regel des Benedikt von Nursia in den Ohren.

Das 64. Kapitel der Regel Benedikts beschreibt in grosser Weisheit das Idealbild eines Benediktinerabtes. Ein Teil dieses Kapitels sei hier ausführlich im Original zitiert, weil Notker Wolf über viele Jahrzehnte an diesen traditionsreichen Formulierungen des Benedikt von Nursia Mass genommen hat. Die Überlegungen stammen aus dem 6. Jahrhundert und sind bis heute aktuell geblieben:

Der eingesetzte Abt bedenke aber stets, welche Bürde er auf sich genommen hat und wem er Rechenschaft über seine Verwaltung ablegen muss.

Er wisse, dass er mehr helfen als herrschen soll.
Er muss daher das göttliche Gesetz genau kennen, damit er Bescheid weiss und (einen Schatz) hat, aus dem er Neues und Altes hervorholen kann. Er sei selbstlos, nüchtern, barmherzig.
Immer gehe ihm Barmherzigkeit über strenges Gericht, damit er selbst Gleiches erfahre.

Er hasse die Fehler, er liebe die Brüder.
Muss er aber zurechtweisen, handle er klug und gehe nicht zu weit; sonst könnte das Gefäss zerbrechen, wenn er den Rost allzu heftig auskratzen will.
Stets rechne er mit seiner eigenen Gebrechlichkeit. Er denke daran, dass man das geknickte Rohr nicht zerbrechen darf.

Damit wollen wir nicht sagen, er dürfe Fehler wuchern lassen, vielmehr schneide er sie klug und liebevoll weg, wie es seiner Absicht nach jedem weiterhilft; wir sprachen schon davon.
Er suche, mehr geliebt als gefürchtet zu werden.
Er sei nicht stürmisch und nicht ängstlich, nicht masslos und nicht engstirnig, nicht eifersüchtig und allzu argwöhnisch, sonst kommt er nie zur Ruhe.
In seinen Befehlen sei er vorausschauend und besonnen. Bei geistlichen wie bei weltlichen Aufträgen unterscheide er genau und halte Mass.
Er denke an die massvolle Unterscheidung des heiligen Jakob, der sprach: «Wenn ich meine Herden unterwegs überanstrenge, werden alle an einem Tag zugrunde gehen.»

Diese und andere Zeugnisse massvoller Unterscheidung, der Mutter aller Tugenden, beherzige er. So halte er in allem Mass, damit die Starken finden, wonach sie verlangen, und die Schwachen nicht davonlaufen.
Besonders wahre er in allem die vorliegende Regel.

Seit seiner Wahl zum Erzabt der Missionskongregation von St. Ottilien im Jahr 1977 bis zum Ende seiner Amtszeit als Abtprimas der Benediktiner im Jahr 2016 hatte Notker fast 40 Jahre lang Zeit und Gelegenheit, sich in diesen Worten der Benediktsregel zu finden. Zweifellos hat sich Wolf regelmässig und intensiv mit diesem Text auseinandergesetzt – er ist ihm zur Richtschnur seines Lebens geworden.

In jeder Amtszeit gibt es auch stürmische Zeiten. Notker Wolf war kein Schönwetterkapitän. Geduldig stellte er sich allen Herausforderungen – fast Tag und Nacht war er überall auf der Welt erreichbar. Rat und Unterstützung, Engagement und Entscheidungen kamen, wenn nötig, stündlich per Mail.

Verschlagenheit und Geschwätzigkeit waren Notker Wolf nie geheuer; er hat sich nicht an Intrigen und Desavouierungen beteiligt, Verhaltensweisen, die leider auch in der Kirchenpolitik an der Tagesordnung sind – wie selbst Papst Franziskus immer wieder beklagt. Im Gegenteil: Mit Schalk und Humor, manchmal auch mit scharfem Witz hielt er sich allzu aufdringliche Anfragen aller Art vom Leib.

Nicht erst seit seiner Rückkehr in sein Heimatkloster St. Ottilien wagte sich der Abtprimas der Benediktiner auch auf das politische Parkett – weniger auf das Glatteis der Parteipolitik als vielmehr auf die Ebene gesellschaftlich relevanter Sachfragen. Aus christlich-missionarischer Überzeugung und vor dem Hintergrund seiner immensen Führungserfahrung mischte er sich zunehmend in die grossen Fragen ein. Seine Nähe zu den brennenden Anliegen der Menschen, vor allem der einfachen Leute, verschaffte ihm eine grosse Zuhörerschaft. Bis zuletzt setzte sich der Mönch Notker bewusst zu den Menschen, hörte ihnen mit ehrlichem Interesse zu und vermittelte ihnen seine christlichen Überzeugungen.

Bei aller kommunikativen Offenheit war Notker Wolf ein Mann alter Schule. Hochgebildet, kulturell interessiert, sprachlich äusserst begabt, musikalisch, bodenständig und selbstständig denkend lebte er in dieser Welt. Zunehmend kommentierte er Fehlentwicklungen – immer wieder erinnerte er an die überlieferten Werte und Überzeugungen des Christentums. Vor allem dort, wo er unbelehrbare Dummheit und arrogante Überheblichkeit am Werk sah – sei es in der Politik oder in der Kirche –- fand er deutliche Worte und machte er klare Aussagen.

Mit seinem Tod verliert nicht nur die Erzabtei St. Ottilien einen grossen Vorkämpfer für ein angstfreies, christlich verantwortetes Leben auf der Grundlage des Benedikt von Nursia.


Pater Markus Muff OSB


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  • user
    Meier Pirmin 06.04.2024 um 07:42
    Mit Erzabt Notker Wolf hat zumal die katholische Kirche Deutschlands bzw. des deutschen Sprachraums einen der bedeutendsten und glaubwürdigsten verkündigungsfrohen Publizisten verloren, der in benediktinischer Tradition zumal über einen hervorragenden humanistischen Horizont verfügte. Seine Vorträge, Bücher und Artikel konnten aufgrund ihrer Substanz nicht einfachhin in die "rechtskatholische" Ecke entsorgt werden,. Die oben abgedruckten Kommentare zum Mönchsvater Benedikt erinnern mich stark an den nach wie vor lesenswerten und unentbehrlichen Regelkommentar von Abt Holzherr Einsiedeln, aber auch Abt Benno Malfer selig von Muri-Gries, Vorwort-Verfasser der neuesten Regelübersetzung.

    St. Ottilien, das darf hier noch hinzugefügt werden, war schon im 19. Jahrhundert die Hochburg der Benediktinermission, von der aus sehr progressive Konzepte zum Beispiel Afrika betreffend ausgingen, z.B. statt herkömmlicher Pfarreien mit Pfarrhaus Kulturzentren mit Handwerkern nach dem Vorbild der Benediktinerklöster St. Gallen und Fulda, auch die Philologie der Eingeborenensprachen war sehr wichtig und wurde zum Teil schon nebst dem Griechischen und Hebräischen in der Ausbildung vermittelt, vgl. die Suaheli-Grammatik des Luzerner benediktinischen Missionsbischofs Gallus Steiger, verstorben 1966, von meinen Lehrern im Kollegium Sarnen damals mit hohem Respekt gewürdigt.

    Der Todesfall des Abtes gibt insofern zu denken, dass das Leben dieses Missionars, das zuletzt dem Missionsgebiet der europäischen einst katholisch inspirierten Nationen galt, als es offenbar wohl auch aufgrund der Zeitverhältnisse von einer im Grunde unbenediktinischen Unruhe "im Chaos eines Feldlazaretts" (Nachruf oben) erfüllt zu sein schien. Das Hin und Her zwischen Deutschland und Rom erinnert mich an Zwinglis Wortprägung "Reisläufer Christi" in seiner Einsiedler Marienpredigt vom 14. September 1516, als noch katholischer Priester mit Feldpredigererfahrung. Dabei wurde das kriegerische Reisläuferwesen bekanntlich zunehmend kritisiert, der Eifer auf das Feld des Missionarischen verlegt. Auch eine solche Berufung erreicht irgendwann ihren Grenzwert und Grenznutzen. Am Ende bleibt einem nichts anderes übrig als "Gott es machen lassen." In diesem Sinne: RIP, hochwürdigster Herr Erzabt mit dem programmatischen Namen Notker, dem ersten theologischen Sprachkünstler im althochdeutschen Idiom.