Symboldbild (Bild: Engin Akyurt/Pexels)

Interview

Zwangs­hei­rat – auch in der Schweiz ein Thema

Seit sechs Jah­ren hilft der Ver­ein «Saba­tina Schweiz» Opfern von Zwangs­hei­rat oder Ehr­kul­tur, seien es Frauen oder Män­ner. Er bie­tet dabei nicht nur Not­hilfe und Bera­tung, son­dern ver­sucht auch durch Auf­klä­rung für das Thema Ehr­kul­tur zu sensibilisieren.

Wie kam es zur Gründung des Vereins «Sabatina Schweiz»?
Sela Esslinger*: Die Gründerin Sabatina James ist selbst vom Thema Zwangsheirat betroffen, ebenso vom Thema Ehrgewalt, da sie es wagte, zum katholischen Glauben zu konvertieren. Sabatina James stammt aus einer pakistanischen Familie und wuchs in Österreich auf und lebte später in Deutschland und in der Schweiz. Sie ist seit zwanzig Jahren auf der Flucht vor ihrer Familie. Zu Beginn erzählte sie in vielen Medien von ihrer Geschichte und traf dabei immer wieder Frauen, die Ähnliches erlebt hatten und in Angst lebten. Daraus entstand der Wunsch, Frauen in diesen Situationen zu helfen, aber auch Männern, die z. B. den Glauben wechseln. So hat sie zunächst in Deutschland einen Verein gegründet, seit sechs Jahren gibt es auch einen Verein in der Schweiz.

Der Verein «Sabatina Schweiz» setzt sich für ein friedliches Miteinander zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen ein. Wie kann diese Vision Wirklichkeit werden?
Indem wir versuchen, ohne Vorurteile auf das Gegenüber zuzugehen und seine Geschichte zu verstehen. Dazu gehört für uns vom Verein «Sabatina Schweiz» eine gute Aufklärung z. B. über das Denken in anderen Kulturen oder Religionen. Wir versuchen mit Seminaren oder anderen Veranstaltungen darüber zu informieren, was Menschen aus anderen Kulturen oder Religionen wichtig ist. Oder wo wir sie mit Aussagen oder Verhalten verletzen. Durch die konkreten Beispiele betroffener Menschen können die Einheimischen besser verstehen, mit welchen Problemen das Gegenüber zu kämpfen hat. Ich erlebe immer wieder, dass mir Menschen erzählen, sie hätten eigentlich gar keinen richtigen Kontakt mit Ausländerinnen und Ausländern.
Wir denken oft, dass manche aus einer rückständigen Kultur kommen, da sie «alte» Werte vertreten wie: Familie ist alles, man muss heiraten und viele Kinder haben usw. Aber wenn sie zu uns kommen, bilden genau diese Werte für sie einen sicheren Rückzugsort. Denn sie können bei uns beobachten, wie die Familienstruktur immer mehr zerfällt. Das macht ihnen Angst, weil damit auch der Zusammenhalt und das gegenseitige Füreinanderdasein in der Familie verloren geht. In solchen Situationen versuche ich zu erklären, dass das, was für uns nach Freiheit aussieht, in ihren Augen eine Bedrohung darstellt.

Einer Ihrer Schwerpunkte liegt auf der Hilfe bei einer drohenden Zwangsheirat. Was ist der Unterschied zwischen Zwangsehe und Zwangsheirat?
Eine Zwangsehe liegt dann vor, wenn jemand aufgrund von Druck oder Sanktionen aus seinem Umfeld gezwungen wird, in einer bereits geschlossenen Ehe zu bleiben. Das gilt auch für Ehen, die freiwillig geschlossen wurden. Von einer Zwangsheirat spricht man, wenn eine oder beide Seiten gegen ihren Willen zu einer Ehe gezwungen werden.

Wie verbreitet ist die Zwangsheirat in der Schweiz?
Das ist eine schwierige Frage, denn die Dunkelziffer ist sehr hoch. Die Fachstelle «Zwangsheirat» erhält schweizweit über 350 Notrufe pro Jahr, also einen Fall pro Tag. Die Fachstelle eröffnet dabei nur ein Dossier, wenn es über eine unverbindliche Anfrage hinausgeht, d. h. es rufen doppelt so viele an – mehrheitlich im Sommer, wenn Menschen befürchten müssen, während der Ferien in ihrem Heimatland zwangsverheiratet zu werden. Aber längst nicht jeder, der von Zwangsheirat betroffen ist, greift zum Telefonhörer oder weiss, wo er Hilfe bekommen kann.
Unter diesen 350 Anrufen sind übrigens rund 20 Prozent Männer. Die Anzahl der Minderjährigen nimmt zu, im Moment machen sie rund 30 Prozent aus. Zwangsheirat ist leider etwas, worüber die Betroffenen mit niemandem reden können. Sie müssen gezielt und verdeckt Hilfe suchen. Wenn die Eltern resp. die Familie das entdeckt, wird die Situation für die Betroffenen noch schwieriger.

Sind alle Religionen von der Thematik der Zwangsheirat betroffen?
Eigentlich ist es kein religiöses Thema, sondern ein kulturelles. Deswegen sprechen wir von der «Ehrkultur». Erfahrungsgemäss sind in unseren Breiten die Betroffenen meist Muslime, aber auch Hindus, z. B. aus Sri Lanka. Es gibt aber auch sehr strenge christliche Familien, die verlangen, dass ihre Kinder jemanden aus ihrem Kreis heiraten. Hier sind wir an der fliessenden Grenze zwischen Ehe- resp. Liebesverbot und Zwangsheirat. Also Zwangsheirat: Meine Eltern zwingen mich, jemanden zu heiraten, den ich nicht will. Liebesverbot: Ich darf z. B. als albanisches Mädchen keinen Schweizer Freund haben, weil meine Eltern wollen, dass ich einen Albaner heirate.

Die Ablehnung einer Zwangsheirat verletzt die Familienehre. Eine Argumentation, die für uns Schweizerinnen und Schweizer nur schwer nachvollziehbar ist. Was genau ist unter der Ehrkultur zu verstehen.
Die Ehrkultur kann man nur schwer definieren. Wenn in unserer Kultur jemand aus der Familie ausschert, dann bezeichnen wir ihn als schwarzes Schaf. Das schwarze Schaf darf aber auf der gleichen Wiese blieben, darf zu Familienfesten kommen, es wird also nicht bedroht oder für alle Zeiten ausgeschlossen. Wenn in einer Ehrkultur jemand ausbricht aus dem, was die Familie erwartet, dann wird er nicht als schwarzes Schaf betrachtet, sondern als einen faulen Apfel. Wenn in einer Kiste mit Äpfeln einer fault, muss man diesen unbedingt rausnehmen, sonst gibt es Auswirkungen auf alle anderen Äpfel. Deshalb müssen in einer Ehrkultur ganz krasse Massnahmen ergriffen werden, damit eine Ehrverletzung nicht auf die Familie übergeht.

Gibt es hier Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Im Normalfall kann ein Mann die Familienehre kaum verletzen, ausser wenn er z. B. homosexuell ist und es offen zeigt. Eine Frau hingegen kann diese sehr schnell verletzen, vor allem wenn es um Beziehungen oder Sexualität geht. Hier reicht bereits ein Verdacht. Man kann diese Ehre dann nur wieder herstellen, wenn man drastische Massnahmen ergreift, also nach aussen zeigt: «Ich unternehme etwas, um die Ehre wieder herzustellen» oder «Ich bestrafe die Person so, dass es nicht wieder vorkommt». Im Letzten geht es um Ehrenmord. Wenn man einer Tochter nachweisen kann oder nur vermutet, dass sie mit jemandem geschlafen hat, mit dem sie nicht verheiratet ist oder den die Familie nicht akzeptiert, hat sie bereits den Tod verdient.
In einer Ehrkultur ist jedem durch sein Geschlecht und seine Geburtsfolge eine klare Rolle zugewiesen. Aus dieser Rolle auszubrechen, geht fast nicht. Selbst wenn man bereits in der zweiten oder dritten Generation in der Schweiz lebt, gibt es Dinge, die nicht diskutiert werden können. Was wir als Aussenstehende als laute Diskussion oder Streit wahrnehmen, ist kein Dialog: Da werden keine Argumente ausgetauscht, sondern der andere wird verbal erniedrigt und in seine Rolle zurückverwiesen. Damit wird das Selbstwertgefühl der Person untergraben und zum Schluss hat sie das Gefühl, dass sie schuld sei – das Opfer wird zum Täter gemacht.

Solche Konflikte enden somit zwangsläufig mit der Entfremdung zur Familie?
Wenn jemand bei uns um Hilfe anfragt, dann haben wir nur Kontakt mit dieser Person, nicht mit ihrer Familie. Normalerweise bedeutet ein Ausbrechen aus den familiären Strukturen einen endgültigen Bruch mit der Familie. Deswegen müssen Personen, die wir begleiten, immer von sich aus ein Ja zum nächsten Schritt finden. Wir sagen z. B. nie: «Du musst ins Frauenhaus», sondern zeigen Optionen auf. Das Ja muss von der betroffenen Frau resp. dem betroffenen Mann kommen. Ich denke gerade an einen konkreten Fall. Da war eine junge Frau so weit, dass sie unbedingt weg von der Familie wollte, da sie keine Freiheiten hat – im Gegensatz zu ihren Brüdern. Die ersten Schritte hatte sie bereits allein vorbereitet, wir halfen ihr bei den weiteren. Als ihr jedoch die Tragweite ihrer Flucht klar wurde, unterbrach sie ihr Vorhaben, um erneut das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Gleichzeitig machte sie mit den Vorbereitungen weiter, damit sie im Notfall sofort untertauchen kann. Der Ausbruch aus der Familie hat für die betroffenen Frauen und Männer drastische Konsequenzen. Die Familien oder Gemeinschaften sind untereinander meistens gut vernetzt, sodass es für die Betroffenen schwierig ist, in der Schweiz einen Ort zu finden, an dem sie unerkannt leben können. Dazu kommen die ganzen Formalitäten: Bei einem Kantonswechsel müssen viele Ämter informiert werden und da ist die Gefahr gross, dass irgendjemand eine neue Adresse herausgibt.
Wir hatten aber auch schon Fälle, in denen eine Annäherung wieder möglich war. So z. B. im Fall eines Mannes, der «nur» mit verbaler Gewalt konfrontiert wurde. Heute ist die Situation so weit entspannt, dass wieder ein Kontakt möglich ist. In einem anderen Fall besteht die Möglichkeit, dass eine junge Frau von Verwandten aufgenommen wird, die weniger konservativ denken, sodass es hier nicht zu einem kompletten Beziehungsabbruch kommt. In einem weiteren Fall hat es sich ergeben, dass wir mit der ganzen Familie im Kontakt sind und in manchen Situationen vermitteln können.

Wie können wir betroffenen Frauen und Männern konkret beistehen?
Manche Jugendliche werden von Zwangsheiraten völlig überrascht; sie kommen nicht auf die Idee, dass sie in ihren Ferien verheiratet werden sollen. Unser Wunsch wäre es deshalb, dass mehr Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter dieses Thema bereits an den Schulen aufgreifen. Andere Jugendliche, die vielleicht ahnen, dass es sie treffen könnte, erhalten auf diesem Weg Informationen, Tipps und Adressen, wohin sie sich wenden können, um Hilfe zu holen.
Wir raten davon ab, selbst helfen zu wollen. Es ist ganz wichtig, Fachpersonen beizuziehen, denn es kann ziemlich schnell auch für Helfer gefährlich werden, gerade wenn z. B. der Vater denkt, die Drittperson würde der Tochter dabei helfen, die Familienehre zu verletzen. Und wichtig ist auch, nicht geschlechterübergreifend zu helfen: Einer Frau sollte von einer Frau geholfen werden und einem Mann von einem Mann.

Gibt es Möglichkeiten der Mithilfe beim Verein «Sabatina Schweiz»?
Wir suchen Menschen, die bereit wären, jemanden für eine Weile aufzunehmen. Selbstverständlich nur Menschen, die nicht konkret gefährdet sind! Manchmal geht es einfach um Anschlusslösungen.
Was mir immer sehr nahe geht: Frauen, die aus einer Zwangsehe ausbrechen, stehen mit ihren Kindern ganz allein da. Sie haben kein Beziehungsnetz mehr und sind im wahrsten Sinne des Wortes allein-erziehend. Wie sollen sie einen Deutschkurs besuchen oder eine Arbeit suchen, wenn sie niemanden haben, der auf die Kinder aufpasst? Wir suchen deshalb händeringend nach Ersatzgrossmüttern oder Menschen, die z. B. den Kindern bei den Hausaufgaben helfen könnten, einfach Menschen, die ein Herz für Kinder oder junge Familien haben.

* Sela Esslinger ist Geschäftsleiterin des Vereins «Sabatina Schweiz».
 

Der Verein «Sabatina Schweiz» bietet Hilfe für Opfer von Zwangsheirat und Ehrgewalt und leistet Aufklärungsarbeit über Ehrkultur. Zudem unterstützt er arme christliche Familien in Pakistan, dem Heimatland der Gründerin.
Weitere Informationen auf der Webseite des Vereins oder per E-Mail: office@sabatina-schweiz.ch. Notruf: 044 500 22 33.


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

E-Mail

Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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