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Kommentar

Der Ver­hal­tens­ko­dex des Bis­tums Chur – Kor­sett und Mogelpackung

Wer sich ein­ge­hend mit dem soge­nann­ten «Ver­hal­tens­ko­dex des Bis­tums Chur» (VK) aus­ein­an­der­setzt, wird mit Bestür­zung fest­stel­len, dass die­ses Papier völ­lig zu Recht von ver­schie­de­nen Sei­ten kri­ti­siert wird. Daran ändern auch die vagen Beschwich­ti­gungs­ver­su­che von Bischof Bon­ne­main nichts, denn obwohl er Bereit­schaft zum Dia­log signa­li­siert, lässt er klar durch­bli­cken, dass es kein Zurück hin­ter den VK mehr gibt.

Dabei ist dieses Dokument letztendlich nichts weiter als ein Korsett, in das die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezwängt werden sollen, und eine Mogelpackung, da es unter dem Vorwand, Missbrauchsprävention zu betreiben, die Lehre der Kirche partiell aushebeln will.

Priester unter Generalverdacht
Schon die Aufmachung des VK irritiert: Ein amtliches Dokument bedient sich in der Regel einer sachlichen, unaufgeregten Sprache. Der VK kommt nur zum Teil so daher; er ist durchsetzt von Zeichnungen, über deren künstlerischen Wert man streiten kann, und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten von Missbrauchsopfern. Beides schürt Emotionen, Empörung über den Missbrauch, stellt aber zugleich in unzulässiger Weise die kirchlichen Mitarbeiter, insbesondere die Priester, unter Generalverdacht, denn sowohl bei den Zeichnungen als auch in den Zitaten sind stets geweihte Amtsträger die perfiden Bösewichte, die ihre missbräuchlichen Handlungen erst noch religiös verbrämen und begründen. Fast hört man den alten Kulturkämpfer Augustin Keller aus dem 19. Jahrhundert: «Wo der Schatten eines Mönchs hinfällt, wächst kein Gras mehr.»

Es fällt auf, dass im VK immer wieder von Macht die Rede ist. Auf Seite 4 findet sich folgende Aussage:

«Der Verhaltenskodex legt den Fokus auf spirituellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung [...] Sexualdelikte sind im kirchlichen Kontext meist direkt mit der Ausübung von geistlicher Macht verwoben. Die Vermittlung von religiösen Inhalten, Werten und Idealen sowie die seelsorgerliche Begleitung dürfen nicht zur Verstärkung von Abhängigkeiten führen oder für persönliche und kirchliche Interessen missbraucht werden.»

Subtil wird hier unterstellt, Missbrauch sei eine Folge der bestehenden kirchlichen Strukturen, sei gewissermassen, um es modern auszudrücken, in der DNA der Kirche vorhanden. Wer geistliche «Macht» hat, nützt diese früher oder später aus, um zu tun, was er eigentlich gar nicht dürfte.

Darf sich die Kirche zu Fragen der Sexualität äussern?
Warum diese Fokussierung auf «Macht» als Triebfeder des Missbrauchs? Der VK, bzw. seine Verfasserinnen und Verfasser haben ein nicht zu unterschätzendes Problem: Einerseits wollen sie zwar den Missbrauch eindämmen oder gar ganz verhindern – ein durchaus lobenswertes Ziel! –, andererseits aber sprechen sie der Kirche das Recht ab, sich überhaupt zu sexuellen Dingen zu äussern. Im Kapitel «Qualitätsstandards» heisst es unter anderem:

«Eine menschengerechte und integrative Haltung bedeutet, dass Menschen über die Sinndimensionen der Sexualität (Lustfunktion, Sozialfunktion, Identitätsfunktion, Fortpflanzungsfunktion) selbstverantwortlich entscheiden. Ich anerkenne die sexuellen Rechte als Menschenrechte, insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.» – «In Seelsorgegesprächen greife ich Themen rund um Sexualität nicht aktiv auf. In jedem Fall unterlasse ich offensives Ausfragen zum Intimleben und zum Beziehungsstatus. Dies gilt auch für Gespräche, die ich als Vorgesetzter führe.»

Mit anderen Worten: Das 6. Gebot darf in Beicht- oder andern Seelsorgegesprächen nicht thematisiert werden, schon gar nicht im Sinn der kirchlichen Lehre. Menschen, die in diesem Bereich Probleme haben, die sich um ein christliches Leben bemühen, aber sich als «schwach» erleben, dürfen nicht mehr auf ihrem Weg unterstützt werden. Sie sollen sogar zum «Outing» ermuntert werden, hingegen ist es den kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern untersagt, sexuelles Verhalten, das nicht der kirchlichen Lehre entspricht, in irgendeiner Form als nicht richtig zu bezeichnen. Mit den Worten des VK:

«Ich dränge junge Menschen zu keinem Reinheits- bzw. Keuschheitsversprechen oder ähnlichem. Ich unterlasse jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Identität. Einem Outing zu sexueller Orientierung stehe ich unterstützend zur Seite und unterlasse es in jedem Fall, Massnahmen zur Konversion (z. B. «Gesundbeten», Therapie) zu empfehlen.»

Kirchliche Mitarbeiter werden also gezwungen, in ihrer seelsorgerlichen Arbeit Ansichten zu vertreten, die nicht der Lehre der Kirche entsprechen – nicht nur eine Absurdität ohnegleichen, sondern auch der Grund, warum kirchentreue Priester, Diakone oder Katechetinnen in schwere Gewissenskonflikte geraten können.

Verloren im Paragraphendschungel
Herzstück des VK ist das Kapitel 4 («Qualitätsstandards»): In 148 (in Worten: einhundertachtundvierzig!) paragraphenähnlichen Verpflichtungen wird minutiös aufgelistet, was eine in der Seelsorge tätige Person darf, soll, bzw. nicht darf oder soll. Statt sich auf ein paar wenige grundlegende Regeln zu beschränken und den Rest dem gesunden Menschenverstand zu überlassen, werden die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so eng geführt, dass eine sinnvolle und individuell angepasste Seelsorge kaum noch möglich ist. Wer kann sich schon 148 «Qualitätsstandards» merken und in jeder Situation diesem Paragraphendschungel gerecht werden?

Doch möglicherweise steckt dahinter sogar eine bestimmte Absicht: Den Umstand, dass man bei jeder seelsorgenden Person «Verstösse» gegen den einen oder andern Paragraphen wird feststellen können – man muss nur sorgfältig genug danach suchen! –, kann man vortrefflich dazu benutzen, missliebige, sprich: kirchentreue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Druck zu setzen oder gar zu entfernen. Der VK öffnet Denunziationen und Mobbing Tür und Tore und erweist sich damit selbst als ein Instrument des Machtmissbrauchs, den man ja angeblich mit seiner Hilfe eliminieren will.

«Und bist du nicht willig ...»
Wie ernst es der Bistumsleitung rund um Bischof Dr. Joseph Maria Bonnemain mit der Umsetzung des VK ist, zeigt sich im Kapitel 5 mit dem Titel «Verpflichtungserklärung». Mit Worten wie «Ich nehme zur Kenntnis, dass es für situationsbedingte Anpassungen des Verhaltenskodex eine fachliche Grundlage und transparente Absprache braucht. Intransparente Übertretungen können Auflagen durch eine Führungsperson nach sich ziehen, die in mein Personaldossier Eingang finden. Ich bin mir bewusst, dass die erneute Missachtung dieser Auflagen zur Kündigung führen und in Referenzauskünften sowie im Arbeitszeugnis erwähnt werden kann” wird den kirchlichen Mitarbeitern unmissverständlich der Tarif durchgegeben. Raum für Eigeninitiative und Selbstentfaltung bleibt da kaum noch. Wie in Goethes «Erlkönig» gilt die Devise: «Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.» Machtmissbrauchsbekämpfung sieht definitiv anders aus!

VK im Dienst des Reiches Gottes statt tendenziöse Zwangsjacke
Dass angesichts des himmelschreienden Skandals der vielen Missbrauchsfälle in der Kirche etwas getan werden muss, ist unbestritten. Nur braucht es dazu keine tendenziöse Zwangsjacke, sondern ein paar wenige, klar einsichtige Grundregeln, die mit der Lehre der Kirche in Übereinklang stehen müssen. Eigentlich würde ein Verweis auf die Zehn Gebote und den Katechismus genügen, wird doch dort genau festgehalten, was von einem Menschen, der sich Christ nennt, also erst recht von einem kirchlichen Mitarbeiter billigerweise erwartet werden kann. Dass übergriffiges Verhalten eindeutig nicht dazu gehört, versteht sich von selbst.

In einem kirchlichen VK darf eines nicht vergessen gehen, nämlich der Grundsatz, dass letztlich Seelsorge im Dienst des Reiches Gottes steht und nicht nur eine Art Psychotherapie darstellt. Wie bringe ich Gott zu den Menschen und die Menschen zu Gott? Diese Frage steht im Zentrum jeglicher seelsorgerlichen Tätigkeit und müsste deshalb auch entscheidend bei der Ausarbeitung eines Verhaltenskodex sein. Im vorliegenden VK des Bistums Chur ist davon wenig bis gar nichts zu merken ...

Gastkommentare spiegeln die Auffassungen ihrer Autorinnen und Autoren wider.

 


Martin Meier-Schnüriger


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    Daniel Ric 10.03.2023 um 11:53
    Sehr guter Artikel!
  • user
    Gabriela Ulrich 09.03.2023 um 10:10
    Der Autor zeigt klar auf, warum dieser VK des Bistum Chur für die katholische, apostolische Kirche nichts taugt. Und der VK ist, wie es bereits der Churer Priesterkreis klar gestellt hat, nicht verbindlich. Wer katholisch ist, unterzeichnet einen solchen VK, das gegen die Lehre der Kirche und die guten Sitten verstosst, nicht. Und weil es nicht verbindlich ist, ist ein Rausschmiss gar nicht möglich. Die Römisch--Katholischen Kantonalkirchen im Bistum Chur haben mit ihrem VK voll und ganz versagt. Ich frage mich überhaupt, müsste nicht der Vatikan die Voraussetzungen für einen VK für die katholische Kirche schaffen ?
  • user
    Claudio Tessari 09.03.2023 um 05:31
    Der Autor trifft auf den Punkt. Beim VK geht es um die Änderung der Lehre. Wenn ein Glas Wasser 1 Tropfen Gift enthält, ist das zwar wenig, ist aber gefährlich. Genau so der VK. Es ist wiedermal die deutschsprachige Arroganz, welche meint, sie könne bestimmen, was die Kirche lehrnen muss. Der Synodale Weg in Deutschland ist auf dem Weg ins Schisma, und die Schweizer Bischöfe unterstützen ihn ja grössten Teils. Aber vielleicht ist dieser VK auch gerade passend, so trennt sich die Weizen vom Streu! Ein rechtgläubiger Katholik kann diesen VK nicht ohne Vorbehalt unterzeichnen!