Poissy-Antiphonal, folio 30 v. (Bild: Wikimedia)

Hintergrundbericht

Die O-​Antiphonen

Die Katho­li­sche Kir­che hat den Tagen unmit­tel­bar vor dem Weih­nachts­fest einen eige­nen Cha­rak­ter gege­ben. Vom 17. bis 23. Dezem­ber begeg­nen wir in der hei­li­gen Messe und in der Ves­per den soge­nann­ten O-​Antiphonen.

Die Zeit davor, vor allem der Beginn des Advents, ist endzeitlich geprägt, d. h. auf die Ankunft (Advent) Christi im Sinne seiner Wiederkunft in Herrlichkeit und als Richter am Ende der Zeiten ausgerichtet. Die acht Tage vor Weihnachten stimmen hingegen ganz auf die Feier der Geburt Christi, den Mensch gewordenen Sohn Gottes ein. Sie greifen die Sehnsucht des Volkes Israels in den Texten des Alten Testamentes auf, eine Sehnsucht, die im menschgewordenen Sohn Gottes ihre volle und endgültige Erfüllung gefunden hat. Damit diese Zeit nicht durch die Feier von Heiligengedenktagen «gestört» wird, treten diese, sofern ihrer überhaupt gedacht wird, in der heiligen Messe in den Hintergrund. Auch die «Roratemesse», die ja eine Votivmesse zu Ehren der heiligen Gottesmutter Maria ist, kann in dieser Zeit nicht mehr gefeiert werden.

Die O-Antiphonen rahmen das Magnificat Mariens ein
Zur besonderen liturgischen Gestalt dieser Zeit vor dem Weihnachtsfest gehören die berühmten O-Antiphonen. Diese rahmen in diesen Tagen in der Vesper das Magnificat ein, den Lobpreis Mariens als sie Elisabeth besuchte. Es gibt sieben Magnificat-Antiphonen, die eine grosse Tradition haben und mindestens auf das 7. Jahrhundert zurückgehen. Die Antiphonen begegnen uns aber nicht nur in der Vesper, sondern in nahezu identischer Form in den entsprechenden Werktagsmessen als Hallelujavers – allerdings ohne das einleitende «O».

Jesus wird dabei unter sieben Titeln angerufen, die dem Messias im Alten Bund gegeben werden: «O Weisheit, hervorgegangen aus dem Mund des Höchsten», «O Führer des Hauses Israel», «O Spross aus Isais Wurzel», «O Schlüssel Davids», «O Morgenstern», «O Sonne der Gerechtigkeit», «O König aller Völker, Immanuel, Gott-mit-uns». Damit werden die wichtigsten prophetische Bilder und Ereignisse des Alten Testamentes aufgegriffen. Alle diese Anrufungen sind mit Bitten verbunden, um Weisheit und Einsicht, den richtigen Weg zu gehen, um Befreiung aus der Finsternis und der Fessel des Todes. Wenn wir diese einzelnen Anrufungen betrachten, wird deutlich, dass der heute weitverbreitete Gedanke der Selbsterlösung mit dem christlichen Verständnis von Erlösung gar nichts zu tun hat. Christus ist der Befreier! Was wir in der Geburt des Erlösers feiern, findet dann am Ostertag seine Vollendung. In den Kerker der Finsternis kommt das Licht und die Fesseln des Todes werden endgültig gesprengt!
 

17. Dezember      O Weisheit, hervorgegangen aus dem Munde des Höchsten – die Welt umspannst du von einem Ende zum andern, in Kraft und Milde ordnest du alles: o komm und offenbare uns den Weg der Weisheit und der Einsicht!

18. Dezember      O Adonai, Herr und Führer des Hauses Israel – im flammenden Dornbusch bist du dem Mose erschienen und hast ihm auf dem Berg das Gesetz gegeben: o komm und befreie uns mit deinem starken Arm!

19. Dezember      O Spross aus Isais Wurzel, gesetzt zum Zeichen für die Völker – vor dir verstummen die Herrscher der Erde, dich flehen an die Völker: o komm und errette uns, erhebe dich, säume nicht länger!

20. Dezember      O Schlüssel Davids, Zepter des Hauses Israel – du öffnest und niemand kann schliessen, du schliesst und keine Macht vermag zu öffnen: o komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fessel des Todes!

21. Dezember      O Morgenstern, Glanz des unversehrten Lichtes, der Gerechtigkeit strahlende Sonne: o komm und erleuchte, die da sitzen in Finsternis und im Schatten des Todes!

22. Dezember      O König aller Völker, ihre Erwartung und Sehnsucht; Schlussstein, der den Bau zusammenhält: o komm und errette den Menschen, den du aus der Erde gebildet!

23. Dezember      O Immanuel, unser König und Lehrer, du Hoffnung und Heiland der Völker: o komm, eile und schaffe uns Hilfe, du unser Herr und unser Gott!
 

Die Evangelien dieser Tage bringen uns die Vorgeschichte der Geburt Christi nahe
Wer die Gelegenheit hat, die Werktagsmessen vom 17. bis 24. Dezember zu besuchen, wird feststellen, dass in diesen Tagen die Evangelien die Vorgeschichte zur Geburt Christi Revue passieren lassen. Ausgehend vom Stammbaum Jesu Christi wird uns die frohe Botschaft des Engels Gabriel, das Ringen des hl. Josef wegen seiner schwangeren Verlobten, die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth sowie schliesslich der Lobgesang des Zacharias nach der Geburt seines Sohnes Johannes des Täufers verkündet. Die heilige Liturgie bietet uns wahrhaftig einen reichhaltigen Schatz in diesen Tagen für unsere Vorbereitung auf das Weihnachtsfest. Es liegt an uns, dies für unsere persönliche Einstimmung nutzbar zu machen.
Vielleicht haben Sie die Gelegenheit, in Ihrer Nähe eine Vesper in einem Kloster mitzubeten.
Und wenn wir schon in den O-Antiphonen bzw. Hallelujaversen dieser Tage um Befreiung bitten, sollten wir auch die befreiende heilige Beichte empfangen, in der wir die persönliche Lossprechung erhalten. Vergessen wir nicht: Ohne Christi Menschwerdung, ohne Christi Leiden, Tod und Auferstehung gäbe es diese befreiende Lossprechung nicht, und wir wären bildlich gesprochen immer noch im Kerker der Finsternis und des Todes!

 

Dieser Beitrag erschien im Pfarrblatt für die Pfarreien Unteriberg, Studen, Oberiberg, Steinen, Riemenstalden und Attinghausen


Roland Graf
swiss-cath.ch

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Dr. Roland Graf ist Pfarrer in Unteriberg und Studen (SZ). Er hat an der Universität Augsburg in Moraltheologie promoviert und war vor seinem Theologiestudium als Chemiker HTL tätig.


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Bemerkungen :

  • user
    Stefan Fleischer 16.12.2022 um 19:31
    Ja, beherzigen wir besonders den letzten Abschnitt. Denn:

    «Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen.» (1.Kor 15,19)