Die scheidende Präsidentin Daniela Sieber und der neue Präsident Dr. Pius Gebert. (Bild: © Bistum St. Gallen)

Kirche Schweiz

Viel­ver­spre­chen­der Neu­start im Bis­tum St. Gallen

Das «Fach­gre­mium gegen sexu­elle Über­griffe im Bis­tum St. Gal­len» erhält einen neuen Prä­si­den­ten: Dr. Pius Gebert, soeben pen­sio­nier­ter Kan­tons­ge­richts­prä­si­dent des Kan­tons Appen­zell Aus­ser­rho­den. Die Zei­chen ste­hen gut, dass unter sei­ner Ägide die fäl­lige Kurs­kor­rek­tur erfolgt.

Per Medienmitteilung vom 15. Februar 2024 informierte die Kommunikationsverantwortliche des Bistums St. Gallen, Sabine Rüthemann, über den Präsidiumswechsel im «Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe». Bereits der Titel «Toxische Muster aufdecken» signalisiert, wohin die Reise gehen soll. Da ist unisono flächendeckend von «Missbrauchsverbrechen» die Rede, als ob das staatliche Recht nicht zwischen Verbrechen, Vergehen und Übertretungen unterscheiden würde. Dann gehts so richtig los. Die bisherige Präsidentin des Fachgremiums, Daniela Sieber, lässt sich mit folgenden Worten zitieren:
«Eine systematische Aufarbeitung wird möglich, in den vielen Meldungen können Parallelen erkannt und toxische Muster in der katholischen Kirche aufgedeckt werden. Daraus können die Entscheidungsträger der Kirche immer weiter dazulernen.» Zudem seien im Umfeld der Kirche Übergriffe durch die Täter oftmals geistlich gerechtfertigt worden. Welche Glaubenssätze dabei individuell wirkten, bleibe im Verborgenen. Betroffenen sei demgegenüber oft kein Gehör geschenkt worden.

Die Erkenntnisse der Studie zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland sind offensichtlich noch nicht in der Entourage von Bischof Markus Büchel angekommen. Denn in eben dieser Studie werden auf über 800 Seiten exakt die gleichen Reaktions-Mechanismen bei sexuellen Missbräuchen dokumentiert: Verschleppung der Verfahren, Vernichtung belastender Akten, Vorrang des Täterschutzes vor jenem der Opfer, protestantische Rechtfertigungslehre als besonderer Risikofaktor. Besonders überraschender Befund: 75 % der straffällig gewordenen Pastoren waren zum Zeitpunkt der Ersttat verheiratet – passt so gar nicht zu dem innerkirchlich geradezu dogmatisierten Narrativ des «Sonderrisikofaktors» namens Zölibat (vgl. swiss-cath.ch «Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche in Deutschland: Nur die Spitze der Spitze des Eisbergs»).

In summa: Die dokumentierten Fälle sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland verliefen strukturunabhängig exakt nach dem gleichen Muster wie in der Katholischen Kirche (demokratisch-föderalistische Strukturen hier, hierarchische Strukturen dort).

Katholische Kirche als Sündenbock
Das katholische «Alleinstellungsmerkmal» erweist sich im Lichte der deutschen Studie als obsolet. Professor Thomas Großbölting von der Universität Hamburg, der sowohl an der bundesweiten Studie der deutschen Bischofskonferenz als auch an jener der Evangelischen Kirche in Deutschland mitgearbeitet hatte, räumt selbstkritisch ein: «Seit 2010 sprechen wir bei diesem Thema vor allem über die katholische Kirche. Das ist eine Stellvertreterdiskussion. Die evangelische Kirche hat sich bei diesem Thema bislang eher im Schatten der katholischen Kirche bewegt. Es ist gesellschaftlich und medial viel einfacher, über katholische Priester zu sprechen – eine Gruppe von alten Männern in bunten Kostümen, die tatsächlich oder vorgeblich zölibatär leben. Wir sehen jetzt aber, dass die Parallelen zwischen beiden Kirchen viel stärker sind als die Unterschiede» (KNA-Interview vom 25. Januar 2024).

Es wird Sache des neuernannten Präsidenten Pius Gebert sein, die fällige Kurskorrektur im Fachgremium aufzugleisen, sprich den Fokus ohne ideologische Scheuklappen vorurteilsfrei auf die vielschichtige Realität der sexuellen Missbräuche im kirchlichen Umfeld zu richten.

Ein Stein des Anstosses ist die Pflicht der Bischöfe, bei Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe jeden Fall bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige zu bringen, selbst wenn die Straftat bereits verjährt ist: ein veritabler administrativer Leerlauf, bleibt doch der Staatsanwaltschaft nichts anderes übrig, als das Dossier umgehend mit einer Nichtanhandnahmeverfügung an den Absender zu retournieren. Zu diesem Umstand befragt, meinte der zukünftige Präsident Pius Gebert, dass solche Anzeigen in gewissen Fällen Hinweise auf andere, noch nicht verjährte Fälle enthalten könnten und die Frage der tatsächlichen Verjährung oft schwierig zu beantworten sei. Dies mag in wenigen Fällen zutreffen; der sich darin manifestierende, auf inneren und äusseren Druck hin zur innerkirchlichen Pflicht erklärte Anzeigen-Automatismus kollidiert jedoch in evidenter Weise mit dem Gebot der Verhältnismässigkeit.

Seit der Veröffentlichung der Pilotstudie vom 12. September 2023 sind zwei Dutzend Fälle beim Fachgremium des Bistums St. Gallen eingegangen. In diesem Zusammenhang hat die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf zu wissen, welcher Art die geltend gemachten sexuellen Übergriffe waren. Die gesamtschweizerische Pilotstudie vom 12. September 2023 weckt jedenfalls den Verdacht, dass unter dem diffusen Sammelbegriff der «sexuellen Übergriffe» auch Vorgänge subsumiert wurden, die aus staatlicher Sicht mitnichten als Straftaten eingestuft werden können. Es ist nicht einzusehen, dass es dem Fachgremium nicht möglich sein sollte, die zwei Dutzend Fälle so zu anonymisieren, dass keine Rückschlüsse auf konkrete Personen möglich sind und zugleich interessierten Dritten Einsichtnahme in die betreffenden Sachverhalte zu gewähren. Wer Offenheit und Transparenz von anderen einfordert, ist um der eigenen Glaubwürdigkeit willen gehalten, auch sich selbst an diese Maximen zuhalten.

Der neue Präsident des Fachgremiums zeigte sich im Gespräch diesem Postulat gegenüber grundsätzlich offen. Die Zeichen stehen gut, dass unter seiner Leitung das Fachgremium eine ideologisch unbelastete, realitätsbezogen Praxis zum Wohle aller Beteiligten und Betroffenen einschlagen wird.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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  • user
    Michael 17.02.2024 um 18:07
    "Gott will das, was ich hier mit dir tue" könnte ein Täter ebensogut in jeder anderen Religion sagen, oder im Atheismus, "die Freiheit des Menschen will es". - Wenn er mit Vorwürfen konfrontiert wird, wird er unter anderem wohl auch sagen "der Zölibat ist Schuld." Da dieses Argument angesichts von Straftaten nichts wert ist, ist auch vor jeder statistischen Erhebung durchaus zu vermuten, dass die Häufigkeit der Straftaten davon nicht abhängen wird.