Nur die «Spitze der Spitze des Eisbergs»: So brachte es der Studienleiter Martin Wazlawik, Professor für soziale Arbeit an der Hochschule Hannover, auf den Punkt. Warum diese Zuspitzung? Die EKD hatte mit dem «Forschungsverbund ForuM» und fünf weiteren Instituten und Universitäten einen Vertrag geschlossen. Diesem Vertrag zufolge sollten dem Forschungsverbund ForuM sämtliche Personalakten der 20 evangelischen Landeskirchen zur Verfügung gestellt werden, um Fälle von sexueller Gewalt in der EKD und in den zu ihr gehörenden Werken der Diakonie in Deutschland seit 1946 aufzuarbeiten.
In der Folge zeigte sich, dass die vertraglich zugesicherten Personalakten nicht oder nur schleppend abgeliefert wurden, so der Psychiater und Professor Harald Dreßing, der selbst an der Erstellung dieser Studie mitgewirkt hatte. Mit Ausnahme einer einzigen kleineren Landeskirche konnte sich das unabhängige Expertenteam nur auf die sogenannten Disziplinarakten stützen, sprich auf bereits aktenkundige Fälle. Die Landeskirchen waren entweder nicht willens oder nicht fähig, die vereinbarten Daten zu liefern. Zum Vergleich: Bei der im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz im Jahre 2018 abgelieferten Studie konnten sich die Forscher auf rund 38 000 Personalakten stützen, gegenüber lediglich 4300 Personalakten, die den Forschern der EKD-Studie zur Verfügung standen.
Die von einer einzigen Landeskirche vollständig vorgelegten Daten sind allerdings überaus aufschlussreich, geht doch daraus hervor, dass 60 Prozent der Beschuldigten und 70 Prozent der Betroffenen von den Disziplinarakten nicht erfasst wurden. Das Forschungsteam gelangt aufgrund einer Hochrechnung dieser Zahlen zum Schluss, dass insgesamt mit 9355 Betroffenen und 3497 Beschuldigten gerechnet werden müsse. Der langen Rede kurzer Sinn: Nicht die «Spitze», sondern nur die «Spitze der Spitze des Eisbergs» konnte das Forschungsteam durchleuchten, weil ihm eben mit einer einzigen Ausnahme nur Disziplinarakten aus den 20 Landeskirchen zur Verfügung standen.
Stichwort «Verschleppung»
Die erforderlichen und versprochenen Daten wurden nicht oder nur schleppend abgeliefert. Dies veranlasste die Giordano-Bruno-Stiftung, zusammen mit Betroffenen zeitgleich zur Präsentation der Studie am 25. Januar 2024 eine Kunstinstallation im Sinne einer Protestaktion gegen die Datenverschleppung durchzuführen. Ihr Statement: «Unglaubliche 14 Jahre sind bereits vergangen, seitdem der Missbrauchsskandal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde.» So lange hatte die evangelische Kirche gebraucht, um eine bundesweite Studie zu veröffentlichen. «Damit hat die EKD sogar fünf Jahre länger gebraucht als die katholische Kirche, die ja nicht gerade für schnelle Entscheidungen bekannt ist. Die Studie darf jetzt nicht als Abschluss, sondern, wenn überhaupt, als Anfang der Aufarbeitung in der evangelischen Kirche betrachtet werden»
Die EKD hat für die nicht wegzudiskutierende Verschleppung als «mildernde Umstände» ihre demokratische Struktur ins Feld geführt. Sie könne halt den ihr angegliederten Landeskirchen nicht «einfach so drein regieren» (vgl. KNA-Interview mit Detlef Pollak vom 26. Januar 2024). Es gilt, diesen «Exkulpationsreflex» im Auge zu behalten, wenn der Katholischen Kirche zum wiederholten Male deren hierarchische Struktur als Hemmschuh bei der Aufarbeitung sexueller Missbräuche vorgehalten wird.
Stichwort «Vertuschung»
Im Juli 2010 sah sich Maria Jepsen, die weltweit erste Frau als Bischöfin der lutherischen Kirche, veranlasst, von ihrem Amt als Hamburger Bischöfin zurückzutreten, weil ihr die Vertuschung eines Missbrauchsfalles zur Last gelegt worden war. Das gleiche Schicksal ereilte im November 2023 die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus. Ihr war vorgeworfen worden, als frühere Gemeindepfarrerin in Siegen ebenfalls einen Fall sexualisierter Gewalt vertuscht zu haben.
Stichwort «Täterschutz»
Vertreter der EKD wie auch des Studien-Expertenteams kritisierten, dass in Fällen sexueller Missbräuche mehrfach dem Schutz der Täter bzw. der Institution Priorität eingeräumt wurde. Ein besonders erschütterndes Beispiel ist das Schicksal von Detlev Zander. Er gehört dem Beteiligungsforum der EKD an und war auch bei der Präsentation der Missbrauchsstudie anwesend. Mit drei Jahren wird er in das Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal bei Stuttgart abgeschoben. Sein Leidensweg beginnt im Velokeller. Mit vier Jahren wird er dort erstmals auf eine Werkbank gefesselt und von einem Betreuer missbraucht. Als er einer Erzieherin von diesem Horror erzählt, glaubt sie ihm nicht, glaubt vielmehr, dass er sie anlügt und schlägt ihn grün und blau. Diese Tortur dauert jahrelang, manchmal zweimal pro Tag.[1]
Stichwort «Systemische Ursachen»
Einer an der Studie beteiligter Experte ist Thomas Großbölting, Professor an der Universität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Die «Katholische Nachrichten-Agentur» (KNA) befragte ihn nach den besonderen Risikofaktoren in der evangelischen Kirche. Professor Großbölting: «Die kulturell aufgeladene und hochstilisierte Rolle des evangelischen Pfarrerhauses als Ideal- und Gegengesellschaft, die besondere Macht des ordinierten Pfarrers und das Selbstbild als bessere Kirche, die demokratischer ist und in der alle gehört werden. Damit werden tatsächliche Machtstrukturen verdeckt. Dass hier in der evangelischen Kirche überhaupt so etwas wie sexualisierte Gewalt möglich ist, konnte man sich intern lange nicht vorstellen. Für Betroffene ist es in diesem vermeintlich hierarchielosen ‹Milieu der Geschwisterlichkeit› besonders schwierig, ihre Erfahrungen zu thematisieren. Zudem gibt es noch eine theologische Besonderheit.» KNA: Welche? Professor Großbölting: «Die Rechtfertigungslehre. Sie bietet einen besonderen Umgang mit Schuld und Vergebung, in dem die Tat und damit auch der Täter viel stärker im Vordergrund stehen als der Betroffene. Zugleich ist das Ziel der Vergebung fest programmiert. Für Betroffene, die die Versöhnung verweigern, hat diese Erwartung eine schwierige Folge, werden sie doch oft als Störenfriede erlebt. Dieser Harmoniezwang ist ein typisch protestantisches Element, das den Umgang mit sexualisierter Gewalt schwieriger macht.»
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
"Bei den Beschuldigten handelt es sich fast ausschließlich um Männer (99,6 Prozent); rund drei Viertel von ihnen waren bei der Ersttat laut Studie verheiratet."
99,6% Männer. Ich frage mich, was sagt das über den Einsatz von Männern in diesem Umfeld aus, gäbe es da nicht andere Lösungen?