Symbolbild. (Bild: Jean-Christophe André/Pexels)

Kommentar

Miss­brauchs­stu­die der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land: Nur die «Spitze der Spitze des Eisbergs»

Eine unab­hän­gige Exper­ten­kom­mis­sion hat am 25. Januar 2024 eine Stu­die zur sexua­li­sier­ten Gewalt in der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land (EKD) der Öffent­lich­keit vor­ge­stellt. Die Stu­die bringt ein ekla­tan­tes Ver­sa­gen vorab der Kir­chen­lei­tun­gen ans Licht. Ihr Befund bringt dar­über hin­aus auch so man­che The­sen und Behaup­tun­gen der Pilot­stu­die der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz zum Einsturz.

Nur die «Spitze der Spitze des Eisbergs»: So brachte es der Studienleiter Martin Wazlawik, Professor für soziale Arbeit an der Hochschule Hannover, auf den Punkt. Warum diese Zuspitzung? Die EKD hatte mit dem «Forschungsverbund ForuM» und fünf weiteren Instituten und Universitäten einen Vertrag geschlossen. Diesem Vertrag zufolge sollten dem Forschungsverbund ForuM sämtliche Personalakten der 20 evangelischen Landeskirchen zur Verfügung gestellt werden, um Fälle von sexueller Gewalt in der EKD und in den zu ihr gehörenden Werken der Diakonie in Deutschland seit 1946 aufzuarbeiten.

In der Folge zeigte sich, dass die vertraglich zugesicherten Personalakten nicht oder nur schleppend abgeliefert wurden, so der Psychiater und Professor Harald Dreßing, der selbst an der Erstellung dieser Studie mitgewirkt hatte. Mit Ausnahme einer einzigen kleineren Landeskirche konnte sich das unabhängige Expertenteam nur auf die sogenannten Disziplinarakten stützen, sprich auf bereits aktenkundige Fälle. Die Landeskirchen waren entweder nicht willens oder nicht fähig, die vereinbarten Daten zu liefern. Zum Vergleich: Bei der im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz im Jahre 2018 abgelieferten Studie konnten sich die Forscher auf rund 38 000 Personalakten stützen, gegenüber lediglich 4300 Personalakten, die den Forschern der EKD-Studie zur Verfügung standen.

Die von einer einzigen Landeskirche vollständig vorgelegten Daten sind allerdings überaus aufschlussreich, geht doch daraus hervor, dass 60 Prozent der Beschuldigten und 70 Prozent der Betroffenen von den Disziplinarakten nicht erfasst wurden. Das Forschungsteam gelangt aufgrund einer Hochrechnung dieser Zahlen zum Schluss, dass insgesamt mit 9355 Betroffenen und 3497 Beschuldigten gerechnet werden müsse. Der langen Rede kurzer Sinn: Nicht die «Spitze», sondern nur die «Spitze der Spitze des Eisbergs» konnte das Forschungsteam durchleuchten, weil ihm eben mit einer einzigen Ausnahme nur Disziplinarakten aus den 20 Landeskirchen zur Verfügung standen.

Stichwort «Verschleppung»
Die erforderlichen und versprochenen Daten wurden nicht oder nur schleppend abgeliefert. Dies veranlasste die Giordano-Bruno-Stiftung, zusammen mit Betroffenen zeitgleich zur Präsentation der Studie am 25. Januar 2024 eine Kunstinstallation im Sinne einer Protestaktion gegen die Datenverschleppung durchzuführen. Ihr Statement: «Unglaubliche 14 Jahre sind bereits vergangen, seitdem der Missbrauchsskandal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde.» So lange hatte die evangelische Kirche gebraucht, um eine bundesweite Studie zu veröffentlichen. «Damit hat die EKD sogar fünf Jahre länger gebraucht als die katholische Kirche, die ja nicht gerade für schnelle Entscheidungen bekannt ist. Die Studie darf jetzt nicht als Abschluss, sondern, wenn überhaupt, als Anfang der Aufarbeitung in der evangelischen Kirche betrachtet werden»

Die EKD hat für die nicht wegzudiskutierende Verschleppung als «mildernde Umstände» ihre demokratische Struktur ins Feld geführt. Sie könne halt den ihr angegliederten Landeskirchen nicht «einfach so drein regieren» (vgl. KNA-Interview mit Detlef Pollak vom 26. Januar 2024). Es gilt, diesen «Exkulpationsreflex» im Auge zu behalten, wenn der Katholischen Kirche zum wiederholten Male deren hierarchische Struktur als Hemmschuh bei der Aufarbeitung sexueller Missbräuche vorgehalten wird.

Stichwort «Vertuschung»
Im Juli 2010 sah sich Maria Jepsen, die weltweit erste Frau als Bischöfin der lutherischen Kirche, veranlasst, von ihrem Amt als Hamburger Bischöfin zurückzutreten, weil ihr die Vertuschung eines Missbrauchsfalles zur Last gelegt worden war. Das gleiche Schicksal ereilte im November 2023 die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus. Ihr war vorgeworfen worden, als frühere Gemeindepfarrerin in Siegen ebenfalls einen Fall sexualisierter Gewalt vertuscht zu haben.

Stichwort «Täterschutz»
Vertreter der EKD wie auch des Studien-Expertenteams kritisierten, dass in Fällen sexueller Missbräuche mehrfach dem Schutz der Täter bzw. der Institution Priorität eingeräumt wurde. Ein besonders erschütterndes Beispiel ist das Schicksal von Detlev Zander. Er gehört dem Beteiligungsforum der EKD an und war auch bei der Präsentation der Missbrauchsstudie anwesend. Mit drei Jahren wird er in das Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal bei Stuttgart abgeschoben. Sein Leidensweg beginnt im Velokeller. Mit vier Jahren wird er dort erstmals auf eine Werkbank gefesselt und von einem Betreuer missbraucht. Als er einer Erzieherin von diesem Horror erzählt, glaubt sie ihm nicht, glaubt vielmehr, dass er sie anlügt und schlägt ihn grün und blau. Diese Tortur dauert jahrelang, manchmal zweimal pro Tag.[1]

Stichwort «Systemische Ursachen»
Einer an der Studie beteiligter Experte ist Thomas Großbölting, Professor an der Universität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Die «Katholische Nachrichten-Agentur» (KNA) befragte ihn nach den besonderen Risikofaktoren in der evangelischen Kirche. Professor Großbölting: «Die kulturell aufgeladene und hochstilisierte Rolle des evangelischen Pfarrerhauses als Ideal- und Gegengesellschaft, die besondere Macht des ordinierten Pfarrers und das Selbstbild als bessere Kirche, die demokratischer ist und in der alle gehört werden. Damit werden tatsächliche Machtstrukturen verdeckt. Dass hier in der evangelischen Kirche überhaupt so etwas wie sexualisierte Gewalt möglich ist, konnte man sich intern lange nicht vorstellen. Für Betroffene ist es in diesem vermeintlich hierarchielosen ‹Milieu der Geschwisterlichkeit› besonders schwierig, ihre Erfahrungen zu thematisieren. Zudem gibt es noch eine theologische Besonderheit.» KNA: Welche? Professor Großbölting: «Die Rechtfertigungslehre. Sie bietet einen besonderen Umgang mit Schuld und Vergebung, in dem die Tat und damit auch der Täter viel stärker im Vordergrund stehen als der Betroffene. Zugleich ist das Ziel der Vergebung fest programmiert. Für Betroffene, die die Versöhnung verweigern, hat diese Erwartung eine schwierige Folge, werden sie doch oft als Störenfriede erlebt. Dieser Harmoniezwang ist ein typisch protestantisches Element, das den Umgang mit sexualisierter Gewalt schwieriger macht.»
 

 


75 Prozent der Täter waren verheiratet
Vertuschung, Verschleppung, Täterschutz, hierarchiebedingtes Machtgefälle, systemische Ursachen sexueller Missbräuche: Kaum eine Seite in der von der Schweizer Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Pilotstudie[2], welche nicht von diesen geradezu als Axiome deklarierten Schlagwörtern durchtränkt ist: Die Römisch-katholische Kirche als eine einzige Hochrisikozone mit einer Vielzahl von je spezifischen Sonderfaktoren. Paradigmatisch für diese verzerrte Perspektive ist das Kapitel 5d mit der Überschrift «Katholische Spezifika des Missbrauchs» (S. 78 ff.). Selbstredend wird dabei der «Risikofaktor Zölibat» besonders intensiv bewirtschaftet.

Und nun dies: Laut Studie der EKD waren 75 Prozent der Ersttäter verheiratet! Gerade für die «Progressiv-Katholiken» – denen alles verhasst ist, was auch nur entfernt etwas mit Hierarchie und Weihepriestertum zu tun hat – so etwas wie der GAU, kommt ihnen doch damit ihr Lieblingsfeindbild abhanden. Da gilt es schleunigst Gegensteuer zu geben. An der Spitze dieses Manövers nach dem Motto, dass nicht ist, was nicht sein darf: Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg im Breisgau. Noch bevor die Präsentation der Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Ende war, meldete er sich flugs in einer Art ejaculatio praecox mit einem Konstrukt zu Wort: Es gebe zwar keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Zölibat katholischer Priester und Kindsmissbrauch, aber, so seine Pirouette, einen «indirekten» (vgl. KNA vom 25. Januar 2024 «Missbrauchsstudie entlastet katholische Kirche nicht»).

Wir nicht, ihr aber schon
Noch vor einigen Jahren hatte Wolfgang Huber, seinerzeitiger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, behauptet, die evangelische Kirche sei «weniger anfällig für Missbrauch». Im ähnlichen Sinne äusserte sich im vergangenen Dezember Rita Famos, die oberste Protestantin der Schweiz. Von «swiss-cath.ch» darauf sowie auf ihre Einschätzung der EKD-Studie befragt, liess sie durch ihren Mediensprecher verlauten, die Strukturen in der römisch-katholischen und evangelischen Kirche seien «grundsätzlich sehr verschieden». Man sei aber sehr interessiert, eine grundsätzliche Aufarbeitung der Fälle aus der Vergangenheit zu leisten. Der Rat der Evangelischen Kirche in der Schweiz «prüfe» zur Zeit gemeinsam mit den Mitgliedskirchen eine Studie mit einer «offenen und belastbaren Bestandesaufnahme über Fälle der Vergangenheit».

Einige Tage später gab sich Rita Famos in einem SoBli-Interview geläutert: So viele Kinder und Jugendliche seien missbraucht worden. Lange Zeit habe die Kirche nicht die Perspektive der Betroffenen eingenommen, die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen sei zu kurz gekommen. Das reformierte Pfarrhaus sei eine Risikozone, denn «hier vermischen sich Institution und Familie». Um dem Ruf der Kirche nicht zu schaden, seien Probleme vertuscht worden. Zudem habe die deutsche Studie klar gezeigt, dass das Zölibat der Katholiken nicht das eigentliche Problem sei, denn «viele protestantische Pfarrer waren verheiratet und begingen trotzdem Missbrauch».

Selbstverständlich kann es in keiner Art und Weise darum gehen, Missbrauchsfälle interkonfessionell gegeneinander aufzurechnen und mit dem Finger auf das Fehlverhalten der je anderen Konfession zu zeigen. Aber es gilt, in aller Deutlichkeit dem Zerrbild entgegenzutreten, das die Pilotstudie der Schweizer Bischofskonferenz und ihre medial hochgekochte Propagierung teils ganz bewusst der hiesigen Bevölkerung eingetrichtert haben. Denn wenn die über 800 Seiten umfassende Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland eines bewiesen hat, dann dies: Die Mechanismen, die zum sexuellen Missbrauch geführt haben, sind hüben und drüben, in der katholischen und protestantischen Kirche annähernd die gleichen (vgl. obgenannte Stichworte) – und dies trotz unterschiedlicher, teils diametral entgegengesetzter Strukturen (u. a. Hierarchie versus Demokratie). Oder, um es in den Worten von Professor Großbölting zu sagen: «Wir sehen jetzt aber, dass die Parallelen zwischen den beiden Kirchen viel stärker sind als die Unterschiede» (ibid.). Dies ist das eigentliche, ebenso klare wie erstaunliche Fazit der EKD-Studie.

Schweizer Medien: Bagatellisieren und Totschweigen
Noch am Tag der Präsentation der SBK-Pilotstudie mit ihren behaupteten, aber nicht dokumentierten 1002 Missbrauchsfällen prügelten die Schweizer Medien mit einer Gnaden- und Erbarmungslosigkeit sondergleichen auf die Katholische Kirche ein. Nach Kräften waren sie bemüht, ihr das Alleinstellungsmerkmal des sexuellen Missbrauchs auf die Stirn zu brennen. In der Folge prasselten tagtäglich Schreckens-Narrative auf die Bevölkerung ein. Die ch media mobilisierte den Psychiatrieprofessor Frank Urbaniok, der in seinem Rundumschlag der Katholischen Kirche gleich die Existenzberechtigung absprechen wollte.

Männiglich war deshalb gespannt, wie die Schweizer Medien auf die EKD-Studie reagieren würden, hatte diese doch manch lieb gewordene Feindbilder nachhaltig erschüttert. Um es vorwegzunehmen: Sie reagierten mit Bagatellisierung und Totschweigen. Die meisten begnügten sich mit der Übernahme einer schludrig zusammengeschusterten Agenturmeldung der SDA. Darin schrumpfte die «Spitze der Spitze des Eisbergs» zur «Spitze des Eisbergs», womit gleichzeitig die nun wirklich inakzeptable Tatsache der Datenverschleppung durch die evangelischen Landeskirchen unter den Teppich gekehrt wurde. Ebenso unerwähnt blieb in dieser Agenturmeldung der ebenso überraschende wie zentrale Befund, dass 75 Prozent der Missbrauchs-Täter verheiratete Männer waren. Der vorstehend genannte Sachverhalt betrifft u. a. Online-Medien wie «watson.ch» und «nau.ch», aber auch den «Tages-Anzeiger». Letzterer schwieg die EKD-Studie in der Printausgabe vom folgenden Tag gar gänzlich tot. Auch die «Neue Zürcher Zeitung», die noch am Tag der Präsentation der EKD-Studie in einem gross aufgemachten Artikel mit einer suggestiven Foto auf der Frontseite Missbräuche in der Pius-Bruderschaft angeprangert hatte, behandelte eben diese Studie ausgesprochen stiefmütterlich. Es ist dies umso unverständlicher, als gerade Medien wie «watson.ch» und die NZZ ihre redaktionelle Präsenz in Deutschland in jüngerer Zeit massiv ausgebaut haben und deshalb nicht auf billige Allerwelts-Agenturmeldungen angewiesen wären.

Man wird den Eindruck nicht los, dass die Schweizer Mainstream-Medien an sexuellen Missbrauchsfällen vor allem oder gar nur dann interessiert sind, wenn sie sich gegen die Katholische Kirche instrumentalisieren lassen.

 

[1] https://www.evangelische-zeitung.de/wie-ein-betroffener-aufarbeitung-in-der-kirche-einfordert
[2] Die Pilotstudie wurde von der Schweizer Bischofskonferenz, der KOVOS und der RKZ in Auftrag gegeben.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Bemerkungen :

  • user
    Hansjörg 29.01.2024 um 20:35
    Im Hintergrundbericht vom 25.1. 2024 auf dieser Webseite stand noch geschrieben:

    "Bei den Beschuldigten handelt es sich fast ausschließlich um Männer (99,6 Prozent); rund drei Viertel von ihnen waren bei der Ersttat laut Studie verheiratet."

    99,6% Männer. Ich frage mich, was sagt das über den Einsatz von Männern in diesem Umfeld aus, gäbe es da nicht andere Lösungen?